11. Erinnerung

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Wie jeden Tag, errungen die verlorenen Kinder einen glorreichen Sieg. Liam sah lächelnd zu, wie seine Freunde mit bemalten Gesichtern um eine prasselnde Feuerstelle tanzten und die absonderlichsten Laute aus den Kinderkehlen dringen ließen. Darunter Krächzen, Jaulen, Johlen und Gackern. Immer schneller wurde getanzt und immer lauter geschrien, sodass niemand mehr so recht wusste, welche Stimme und welcher Körper zu wem gehörte und sie alle zu einer fröhlichen Einheit verschmolzen.

Liam saß etwas abseits vom Rest und rief sich ihr vorangegangenes Abenteuer nochmal in lebhafte Erinnerung. Sie hatten mit Tigerlillys Stamm darum gewettet, wer wohl ohne den Einsatz von Feenstaub, den höchsten Baumgipfel erreichen konnte. Also hatten Pan und die furchtlose Häuptlingsfrau sich ein unerschrockenes Duell geliefert, was ihr Anführer nur ganz knapp für sich entscheiden hatte können. Das Lächeln auf seinen Lippen verstärkte sich noch, als er sich an die begeisterten Jubelrufe und Pans triumphalen Aufschrei ins Gedächtnis rief. Dieses Glücksgefühl und die überschäumende Freude, wieder einer dieser großartigen Tage, die keinerlei Wünsche offenließen und doch ... fühlte er wie fast jeden Abend, wenn die Hektik des Tages abzuklingen begann, dieses ganz bestimmte Gefühl in sich aufblühen. Ein Gefühl, was ihn immerzu für eine kleine Weile in schwermütige Stimmung versetzte – und er wusste einfach nicht, woher dieses Gefühl seinen Ursprung nahm. Denn hier in Neverland fehlte es ihm doch an nichts. Eigentlich.

„Was ist das?", fragte ihn da auf einmal eine Mädchenstimme und Tigerlilly rutschte neben ihn und starrte neugierig auf einen Gegenstand zwischen seinen Fingern. „Was meinst du?", fragte der Verlorene verwundert zurück, da ihm bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal selbst aufgefallen war, was er da unterbewusst getan hatte und starrte nun selbst überrascht den Gegenstand an, den er festhielt. „Na, das!", lachte Tigerlilly und stibitzte den Gegenstand sogleich, hielt ihn prüfend empor. Es handelte sich um ein goldenes Medaillon. Liam wusste nicht einmal, warum er das hatte und kräuselte verwirrt die Stirn.

„Es ist wunderschön", fand Tigerlilly. „Aber was ist es, eine Taschenuhr?"

„Es ist ein Medaillon", korrigierte Liam sie, ohne den Blick davon abzuwenden oder auch nur zu blinzeln.

„Ein Medaillon?", fragte die Einheimische verständnislos. „Welchen Zweck erfüllt es?"

„Nun, normalerweise legt man das Bild einer geliebten Person hinein", erklärte Liam ihr leise. Seine Gedanken schweiften ab und trafen auf eine unüberwindbare Nebelwand, so dicht und so hoch, dass man vermutlich niemals auf die andere Seite gelangen konnte. Trotzdem fragte er sich, was dahinter wohl verborgen lag und ob dies der Grund für seine gelegentlich auftretende Traurigkeit sein könnte.

„Also ... ist da ein Bild drin?" Tigerlilly wickelte die Kette auf und untersuchte den daran befestigten Anhänger genauer. „Ah", sagte sie befriedigt, als sie den richtigen Knopf erwischte und der kleine Golddeckel aufsprang. „Oh, wie hübsch."

Liam beugte sich zu ihr, um ebenfalls auf das Bildnis sehen zu können. Das Bildnis einer ihm unbekannten Frau, blickte ihm daraus entgegen, mit dunklem, schwarzen Haar und verschiedenfarbigen Augen.

„Sie sieht aus wie du", behauptete Tigerlilly überzeugt und Liam musste erheitert losprusten. „Findest du?", murmelte er dann zweifelnd.

„Natürlich! Wer ist sie?"

„Ich ..." Liam überlegte angestrengt, doch traf wieder nur auf die geheimnisvolle Nebelwand in seinem Kopf, „weiß es nicht genau."

Doch diese Frage beschäftigte ihn sehr und selbst der Feuertanz konnte ihn danach nicht mehr in seinen Bann ziehen. Den ganzen Abend saß Liam nur noch abwesend da und starrte wie hypnotisiert auf das Schmuckstück in seiner Hand.

Lost Boy_A Neverland StoryWhere stories live. Discover now