KAPITEL 2

87 17 38
                                    

XYLA

Ich kann mich noch genau an den Zeitpunkt erinnern, an dem mir klar geworden ist, dass ich Hunter Remington liebe. Unsterbliche Liebe. Verzehrende Liebe. Liebe wie aus einem Roman. Bedauerlicherweise unerwidert.

Es war die Silvesterfeier vom Label vor drei Jahren. Der Moment kurz bevor der Countdown begann. Er kam durch die Menge in meine Richtung. Schob sich durch die Gäste, den Blick konstant auf mein Gesicht gerichtet. Auf seinen Lippen ein strahlendes Lächeln und zwei Sektgläser in der Hand. Hunter hat ein lockeres olivgrünes Shirt getragen, dessen Rundausschnitt seine Brustmuskulatur unterstrichen hat. Überall in seinen Haaren, auf seinem Shirt und seiner Hose klebte glitzerndes Konfetti. Die Strahlkraft der Discokugel hatte keine Chance gegen sein Lächeln. Der Anblick hat mich fast in die Knie gezwungen. Er hat mir ein Sektglas gereicht und einen Arm um meine Taille geschlungen. Ganz sanft zog er mich an seinen starken Körper und umarmte mich. »Ich wollte dir vor dem Trubel schon mal ein frohes neues Jahr wünschen, Xyla«, hat er in mein Ohr geflüstert. Ich bekam sogar einen flüchtigen Wangenkuss. Das war der Moment, indem ich ihm rettungslos verfiel. Davon habe ich mich bis heute nicht erholt.

»Höher«, fordert er mich mit einem Fingerschnippen auf. Ich gehorche und schmettere den Ton eine Tonlage höher heraus. »Höher.« Er kneift die Augen zusammen, während ich seinen Anweisungen folge. »Okay, nein. Das ist es nicht. Lass mich kurz nachdenken«, teilt er mir mit erhobenem Zeigefinger mit. Nickend sinke ich auf den Hocker und beobachte, wie er mit dem Bleistift über den Text und die Noten fährt. »Wir könnten den Part mit ›I felt free when you let me fall‹ eine Tonart niedriger ansetzen, dafür singst du aber ›I didn't have to crawl anymore‹ höher?« Mit einem Stirnrunzeln lenkt er seine Augen in mein Gesicht.

»Versuchen wir es«, stimme ich schulterzuckend zu. Räuspernd stelle ich mich aufrecht, atme tief durch und warte auf den Einsatz. Hunter beginnt zu spielen, summt bis zu der Stelle, die uns im Augenblick Kopfzerbrechen bereitet. Mit einem fordernden Kopfnicken zeigt er mir meinen Einsatzpunkt und ich gehorche seiner vorherigen Anweisung. Auch dieses Mal ist er nicht zufrieden. Verärgert reibt er sich über die Stirn.

»Warum hört es sich falsch an?« In meinem Kopf flackern die Gedanken umher.

Weil du mich bereits hast fallen lassen, ohne es zu bemerken, und ich mich niemals frei fühlen könnte? Weil ich für dich jederzeit kriechen würde, wenn du es verlangst? Und vielleicht, weil ich deshalb die Zeilen des Songs nicht rüberbringen kann? Weil ich es nicht fühle, aber trotzdem jedes Wort spüre?

Ich beginne, die Zeilen summend zu überfliegen. Dann meldet sich das kreative Popsternchen in mir. »I felt so free when you finally let me fall. There is no need, to crawl anymore«, probiere ich eine andere Ausführung des Textes.

»Besser. Sehr viel besser.« Hunter wirft mir den Bleistift zu. »Schreib das auf«, fordert er mit ausgestrecktem Zeigefinger. Mit einem stetigen Nicken verewigt er die passenden Noten auf dem Blatt am Klavier. Sicherlich noch zwei Stunden feilen wir an dem Song, bis jede Strophe perfekt ist.

Grotesk unwirklich, weil ein Mann wie Hunter davon schreibt, dass eine Frau, wie ich ihn verlässt. Hätte ich die Chance, ihn mein zu nennen, würde ich ihn niemals gehen lassen. Natürlich werde ich ihm davon niemals einen Ton verraten. Vielleicht irgendwann kurz bevor ich den Löffel abgebe.

Gegen zwei Uhr kommt der Lieferdienst mit thailändischem Essen. Ich kann die Schärfe bereits riechen und in den Augen brennen spüren, bevor Hunter seine Box geöffnet hat. Mit einem freudigen Funkeln in den Augen macht er sich über sein Gericht her. Reis mit Gemüse, extra scharfem Thaicurry und Rindfleisch. Es ist stets das gleiche Essen und jedes Mal will er mich dazu drängen, es zu probieren. Diesen Fehler habe ich einmal begangen und niemals wieder.

ERASE YOU | 18 +Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt