Kapitel 1

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An einem Tag kann erstaunlich viel passieren. Mein Tag war wie eine Achterbahnfahrt. Eine von der schlechten Sorte. Eine, in die man sich setzt, denkend, es wäre die Berg- und Tal-Fahrt für Kinder, und dann kommt der erste Looping - und es geht nur noch bergab.

Meine Achterbahnfahrt begann damit, dass ich nach einem kurzen Tag Schule nach Hause kam. Die Tage vor dem Abitur sind stressig - zumindest , wenn Lehrer da sind. Aber es ist Winter und die Erkältungen machen ihre jährliche Runde. Das heißt Entfall und Hohlstunden, soweit das Auge reicht. Genug, um alle Hausaufgaben der letzten Woche zu erledigen und auf die Mathe HÜ am nächsten Tag zu lernen. Ein erfolgreicher Tag also.

Mit dieser guten Stimmung komme ich zuhause an. Mama und Papa sitzen in der Küche. Ihre Stimmung ist bei weitem nicht so gut wie meine. Ist sie schon lange nicht mehr. Im Raum steht die geladene Atmosphäre. Ich will eigentlich nur kurz den Kopf durch die Tür strecken und "Hallo" sagen, aber Mama winkt mich zu den beiden.

"Setz dich", sagt sie und zieht mir einen Stuhl vom Tisch zurück.

Folgsam setze ich mich, meine Schultasche halte ich schützend vor meine Brust gedrückt. Nach witzeln ist mir gerade definitiv nicht zumute. Ich habe diesen Moment in den letzten drei Jahren herbeigesehnt. Das ständige Streiten meiner Eltern ging mir auf die Nerven. Ihre Aggression hat mich verletzt. Die Bereitwilligkeit, mit der sie sich gegenseitig an den wundesten Punkten trafen, war schrecklich.

Mama und Papa schauen sich an. Ich folge ihrem Blickaustausch - sie diskutieren aus, wer es mir sagt. Diese Stille ist fast noch schlimmer als alles, was sie sich jemals an den Kopf geworfen haben. Papa seufzt lautstark. Mama verdreht die Augen. Ich halte es nicht mehr aus.

"Ihr trennt euch. Ich weiß", durchbreche ich die Stille. Meine Augen sind auf den Rand der Tischplatte fokussiert. Ich kann die beiden nicht ansehen.

Jetzt ist es an Mama zu seufzen. "Ja, Blümchen. Dein Vater und ich - wir funktionieren nicht mehr." Sie nennt mich nur Blümchen, wenn sie Angst hat, dass es mir richtig schlecht geht oder wenn ich weine. Aber ich weine nicht. Ich bin nur kurz davor.

"Okay."

Papa legt mir seine große warme Hand auf die Schulter, und ich sehe im Blickwinkel, wie Mama aufsteht. Sie tritt hinter mich und nimmt mich in den Arm. "Es tut mir leid, Blümchen, wir haben es wirklich versucht, aber..."

Nein, habt ihr nicht!

"... wir denken wirklich, dass es besser für uns - und auch für dich - ist, wenn wir uns trennen", beendet Papa den Satz, den Mama begonnen hat. Er drückt meine Schulter fest.

Ich sitze auf dem Stuhl wie festgefroren. Nicke. Höre mich sagen: "Ja, das ist bestimmt besser."

Ich fühle förmlich, wie meine Eltern erleichtert aufseufzen. Nach dem Motto, "Gott sei Dank, sie versteht es." Das macht mich wütend. Ich will nicht verständnisvoll sein, ich will wütend sein. Weil sie es sich einfach machen. Sie geben einfach auf.

Ich stehe auf. "Ich bin in meinem Zimmer."

"Wenn du mehr wissen willst, wenn du darüber reden willst", brummt Papa und streicht mir ein letztes Mal über den Arm, bevor er die Hand runter nimmt. "Wir sind immer für dich da. Auch wenn wir uns scheiden lassen."

Scheiden lassen. Die beiden Wörter hallen in meinem Kopf wider, der auf einmal sehr leer ist. Scheiden ist ein viel schwerwiegendes Wort als trennen. Paare in meinem Alter trennen sich. Es gibt Drama, Freundeskreise brechen auf und ergreifen Partei, aber es hat meistens keine großen Konsequenzen für Umstehende. Aber Scheidungen? Das ist ein ganz anderes Pflaster, ein viel größeres noch dazu.

Ich versuche zielstrebig auf die Küchentür zuzulaufen, aber innerlich bin ich in meine Grundfesten erschüttert. In meinem Kopf folgt eine Frage auf die nächste. Die, die mich am längsten beschäftigt, und alle anderen in den Hintergrund drängt, ist: Werde ich jetzt auch so ein Scheidungskind, das zwischen den Eltern hin- und herpendelt? Ich will nicht, dass Papa auszieht. Oder zieht Mama aus? Bei wem von den beiden werde ich wohnen? Ich will hier nicht weg. Ich will nicht mein ganzes Zimmer ausräumen!

UnsichtbarWhere stories live. Discover now