Kapitel 6

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Das Wetter draußen ist beschissen. Feiner Regen, der wie wild vom Wind in Schleiern über die Straße geweht wird, benetzt die Windschutzscheiben der vorbeifahrenden Autos und peitscht arglosen Passanten ins Gesicht. Regenschirme biegen sich unter den heftigen Böen um und stehen wie missgebildete Blitzableiter in den grauen, wolkenbedeckten Himmel. Ich umschließe meine Tasse heißer Schokolade fester, während ich abwesend den Tropfen an der Fensterscheibe der Bäckerei Meyer zusehe, wie sie sich ein Wettrennen dem Erdboden entgegen liefern. Ronja sitzt in einer zu mir mit Blumenkästen abgetrennten Sitzecke, und schaut immer wieder nervös aus dem Fenster. Die Tür des Cafés ist in ihrem Rücken, so wie wir es uns überlegt haben, damit Toni nicht an mir vorbeiläuft und mich zufällig wahrnimmt. Wenn ich meine Fähigkeit, mich vor seinen Augen zu verstecken, besser beherrschen würde, wäre das nicht nötig gewesen, aber bei meinem momentanen Fähigkeitsstand war uns das Risiko zu groß. Deswegen sitze ich weiter von der Tür weg und habe dennoch einen guten Blick auf Ronjas Tisch, ohne dass Toni mich erblicken kann. Vor allen Dingen, da er mit dem Hinterkopf zu mir sitzen wird.

Aber dafür muss er erst mal kommen. Ronja und ich warten schon seit zehn Minuten auf den Typen, bislang ohne ein Wort von ihm, dass er zu spät kommt.

Ronjas und mein Blick treffen sich. Ich rolle mit den Augen und schüttele den Kopf, um zu signalisieren, dass ich Toni mit jeder vergehenden Minute weniger leiden kann. Ronja zuckt mit den Schultern, als wäre es ihr egal, aber ich kann das nervöse Tappen ihres Fußes beobachten, wie es ihren ganzen Oberkörper zum Wippen bringt. Ihre blauen Augen, die im heutigen regenverhangenen Licht grau wirken, schauen immer wieder nervös nach draußen, wenn ein weiterer Passant an den Fenstern vorbeirennt.

Ich nehme einen Schluck von meiner heißen Schoki und gehe nochmal unseren Plan durch, den Ronja und ich uns für das heutige Date vorgenommen haben: Ronja hat sich mit Toni verabredet unter der Kondition, dass er einen USB-Stick mit den Aufnahmen der Videokamera mitbringt, die uns im Escape Room aufgezeichnet hat. Unsere – oder besser Ronjas – Hoffnung ist es, dass wir mithilfe des Footages der Kamera herausfinden können, wie meine Unsichtbarkeit funktioniert. Ich verstehe zwar noch nicht so richtig, was es mir bringen soll, zu wissen, warum die Leute durch mich hindurch schauen, aber Ronja bestand darauf, dass es helfen würde, meine Fähigkeit zu verstehen. Ich glaube, da kommt die Lehrertochter zweiten Grades durch, die für alles eine Erklärung braucht. Schließlich ist ihr Vater Professor für Chemie und ihre Mutter Konrektorin an der Realschule in unserem Vorort. Da kann man schonmal Erklärungen für Phänomene suchen, die keine brauchen.

Die kleine Glocke, die über der Eingangstür hängt, bimmelt, als ein neuer Kunde der Bäckerei Meyer aus dem Pisswetter ins Warme tritt. Toni nimmt die Kapuze seines Pullovers herunter und schüttelt seine dunklen Haare aus. Wasser perlt ihm die verklebten Haarsträhnen hinab und tropft auf den Boden. Auch wenn ich es nicht zugeben will, Toni sieht gut aus. Ich lasse mich unwillkürlich tiefer in die Sitzpolster meiner Sitzbank sinken, als er in Ronjas, und damit auch meine, Richtung schaut. Zu meinem Glück, hat er nur Augen für meine Freundin, die sich umgedreht hat, und ihn jetzt beobachtet, wie er auf sie zustiefelt.

„Hi, Ronja", begrüßt Toni sie, und Ronjas nervöses Wippen hört auf.

Während Toni in die Sitzbank rutscht, grüßt Ronja zurück und Toni zieht seine Jacke aus. „Richtiges Sauwetter da draußen", beginnt Ronja verlegen.

Toni nickt, und sein dunkles Haar wippt gegen die grünen Blätter der Blumenkästen hinter ihm. Wasser tropft ihm aus den Haaren in den Nacken. Schnell wende ich meinen Blick ab und sehe nach draußen zu den Passanten, die sich durch den Regen mühen.

„Ich bin klatschnass", stimmt Toni zu. „Aber nichts, was nicht wieder trocknet. Also, wie geht's dir, Ronja?"

„Gut. Und dir?", gibt sie zurück, und ich muss aufpassen nicht zu kichern. Sie ist so wahnsinnig zugeknöpft. Hätte ich Ronja dieselbe Frage gestellt, sie hätte mir jede Kleinigkeit erzählt. Jeden doofen Kommentar eines Klassenkameraden, jeden Patzer eines Lehrers. Alles. Aber Toni gegenüber gibt sie natürlich nichts dergleichen preis.

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