Kapitel 4

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Die Busfahrt bis zum Tierheim Zur Sonne dauert fünf Minuten und führt am Stadtpark vorbei. Zwischen und in den Bäumen sind Lichterketten gespannt. Die Lichter betupfen die trostlos in den Himmel ragenden Baumskelette mit warm strahlenden, gold gelben Punkten. Ein großes Banner ist am Eingang aufgehängt, das den herannahenden Weihnachtsmarkt bewirbt. Auf dem großen Brunnenplatz werden schon fleißig Kabel verlegt und Holzhütten aufgebaut. Früher bin ich immer mit Mama und Papa über den Markt geschlendert und hab mich an meinem Kinderpunsch festgehalten. Ich bin von einem Stand zum nächsten gezischt, egal ob es eine Fressbude oder ein Glasbläser war – ich konnte mich für alles, was ausgestellt wurde, begeistern. Aber seit Mama und Papa mehr gestritten haben, sind unsere Weihnachtsmarktbesuche in den Hintergrund gerückt. Wenn ich den Markt noch besucht habe, dann mit Ronja, ihrer Familie oder meinem Papa. Mama konnte ich nie wieder dazu bewegen, über den etwas kitschigen Rummel zu spazieren und Baumkuchen zu essen.

Als der Bus an der Haltestelle Stadtpark hält, schüttele ich meine nostalgischen Gedanken ab und steige aus. Vermutlich wird es auch dieses Jahr wieder darauf hinauslaufen, dass ich mit Ronja und ihrer Familie auf dem Markt Zeit verbringen werde. Ronja schießt unheimlich gerne an den Schießständen. Ihr Bett und Schrank sind übervoll mit gewonnen Squischies, auch wenn sie die nach außen hin niemals zeigen würde.

Das Tierheim Zur Sonne steht in einer Seitenstraße. Es ist ein alter Industriebau, der über einen relativ großen Innenhof verfügt, in dem die Tiere während der warmen Tage Auslauf kriegen. Jetzt im Winter liegen sie alle etwas faul in ihren Käfigen und lassen sich die trockene Heizungsluft um die Nase blasen.

Eine kleine Glocke verkündet mein Eintreten und aus dem Büro hinter dem Tresen dringt eine etwas verstopfte weibliche Stimme: „Ich bin sofort da!"

Das Gebäude ist von innen renoviert, hat aber seinen alten Charme als ehemalige Industriehalle behalten. Stahlröhren und offene Kabelage ist an der Decke sichtbar. Die Wände bestehen aus roten Ziegeln und der Boden ist Sichtbeton. Lila beschwert sich im Winter immer über die hohe Stromrechnung, die sie bezahlen muss, um das ganze Gemäuer warm zu halten. Bei den Tieren ist es ein wenig besser. Die Wände sind dank einer Aktion der Freiwilligen, die das Tierheim finanzieren und unterstützen, isoliert und in den meisten Großraumkäfigen steht mindestens eine Wärmelampe.

Aus der Tür hinter dem Empfangsbereich tritt Lila, eine voluminöse Frau in ihren späten Vierzigern, die das Tierheim leitet. Ihre gutmütige Miene erhellt sich, als sie mich sieht. „Flora! Wie schön, dein hübsches Gesicht wieder zu sehen!", ruft sie erfreut, schlängelt sich durch die Hängetür, die den Bereich hinter dem Tresen zum Besuchereingang abgrenzt und zieht mich in eine feste Umarmung. Sie riecht nach Stroh, Katze und Schweiß. Der Geruch hat mich in meiner Kindheit viel begleitet. So riecht eigentlich jeder, der hier im Tierheim hilft, und mein Vater hat mich früher oft mit hierher geschleift. Lila kennt mich also schon, seit ich ein kleiner Stöpsel bin. Und ich sie. Fest drücke ich sie an mich. Solche Umarmungen fehlen mir gerade in meinem Leben, auch wenn ich es nicht gerne zugebe. Klar, Ronja und ich umarmen uns auch, aber Lila ist erwachsen und hat etwas mütterliches.

Mein Herz krampft sich ein bisschen zusammen.

„Du kommst genau richtig!", sagt sie, klopft mir gutherzig auf die Schulter und löst sich von mir. „Die Raubtiere wollen gefüttert werden. Und, na ja... Ich bin immer noch nicht der größte Fan der krallenbesetzten Killermaschinen."

Lila hat Angst vor Katzen. Warum sie dann ausgerechnet ein Tierheim für Kleintiere, Hunde und Katzen leitet, ist mir seit jeher ein Rätsel. Aber für sie funktioniert es irgendwie. Meist findet sich jemand anderes, der das Füttern und Ausmisten der Käfige übernimmt.

Ich nicke. „Klar, die Katzen nehme ich dir gerne ab. Aber ich habe keine Wechselklamotten dabei."

„Seit wann ist das denn ein Problem?", neckt Lila mich lachend. „Wechselklamotten gibt's im Umkleideraum. Wo du den findest, weißt du noch?"

UnsichtbarWhere stories live. Discover now