{no. 1} Klischees

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Di, 22.12.2015

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"Du darfst nicht einschlafen, wenn du Auto fährst! Erst recht nicht, wenn es schneit, glatt ist und die Menschen sowieso vor lauter Weihnachtsstress blind auf die Straße laufen! So wirst du deine Prüfung niemals bestehen!"
  Kann der nicht mal für ein paar Minuten seine nervige Klappe halten? Ich weiß selbst, dass ich nicht die beste Autofahrerin bin, aber so wie die anderen Verkehrsteilnehmer durch die weißen Straßen brettern, kann man ja nur Angst kriegen und abgelenkt werden. Ich hab im Ernst jetzt gerade null Lust, mit dem Drachen von Fahrlehrer auf so engem Raum eingesperrt zu sein.
  "Es tut mir leid. Wirklich." Hab ich das jetzt ernsthaft gesagt? Bin ich verblödet, mich bei dem sogenannten Menschen auch noch zu entschuldigen?
  "Das hilft uns auch nicht weiter, wenn du einen Unfall gebaut hast!"
  Ich hätte mich nicht entschuldigen dürfen. Notiz an mich: Nie wieder beim Drachen entschuldigen. Nützt nichts und verschwendet wertvollen Atem.
  "DIE AMPEL IST ROT!", brüllt er mich an und tritt mit voller Wucht auf die Bremse, sodass wir nach vorne geschleudert und in die Gurte gequetscht werden.
  "Wenn sie mich nicht dauernd zurechtweisen würden und mir sagen, wie schlecht ich doch fahre, könnte ich mich vielleicht auch auf den Verkehr konzentrieren! Schließlich muss ich das Fahren erst noch lernen!"
  Er sagt nichts, sondern starrt verbissen auf das rot leuchtende Signal, das uns die Weiterfahrt verwehrt.
  Der Rest der Fahrt verläuft stumm und wortlos. Irgendwann drehe ich das Radio auf, damit die Stille mich nicht so expressiv anschreit. Ab dem Zeitpunkt läuft das Fahren auch besser als vorhin. Als wir an der Fahrschule ankommen steige ich demonstriv schnell aus und knalle die Tür zu. Eigentlich brauche ich den Führerschein doch gar nicht. Nicht von so einem dummen und nervigen und völlig inkompetenten Fahrlehrer.
  "Bis zum nächsten Mal!", ruft er mir betont unfreundlich hinterher.
  "Ganz sicher nicht", murmele ich in meinen Schal und verschwinde um die nächste Ecke. Hier werden meine schnellen Schritte verlangsamt und ich latsche auf die Ubahnstation zu. Beinahe wäre ich zu allem Überfluss auch noch ausgerutscht und hätte mich fast auf die Fresse gepackt.
Heute ist der beste Tag des ganzen Winters, teilen mir meine sarkastischen Gedankengänge mit. Ich stopfe mir die Kopfhörer in die Ohren, um potentielle Gesprächspartner abzuwehren und setze mich in die nächste Ubahn Richtung Stadt, um mich mit Sydney zu treffen. Sie wollte vor einem kleinen gemütlichen Café warten, das wir einmal durch Zufall entdeckt haben. Als sie mir entgegenkommt, wird mein Tag schon ein wenig besser.
  "So schlimm?", begrüßt sie mich mit einer warmen Umarmung.
  "Seh ich wirklich so unglücklich aus?" "Es steht quasi auf deiner Stirn, so wie immer, Kleine." "Hey! Ich bin zwar nicht das sprühende freudige Leben, aber ich bin auch nicht klein!" In diesem Moment fegt eine eisige Windböe über den Platz und ich bedanke mich bei meiner Mütze und meinem dicken Mantel, dass sie da waren.
  "Lass uns lieber reingehen, sonst erfrieren wir hier noch", schlägt sie vor und ich halte ihr die Tür auf, damit sie durchgehen kann.
  "Die Dame..."
  "Ich danke."
Wir bestellen einen großen Cappuccino und für jeden einen Wrap.
  "Ich hab echt Hunger!", jammert Sydney. "Diese Fahrstunde hat mir auch jegliche Energie geraubt!" "Jetzt erzähl doch mal! Was hat der Panda jetzt schon wieder gesagt?"
  Er hatte irgendwie immer eine dunkle Brille auf und war nicht gerade der schlankste Mensch unter der Sonne. Deswegen hieß er laut Sydney nur noch der Panda. "Ich glaube, es war schonmal deutlich schlimmer, aber er nervt einfach so sehr." Mit diesen Worten beiße ich genüsslich in meinen Wrap und schildere ihr danach die Ereignisse.
  "Ich hab einfach keinen Bock mehr! Am liebsten würde ich hinschmeißen." Sydney lacht laut auf und zieht versehentlich einige Blicke auf sich. "Das wär das dümmste, was du tun könntest."
"Danke für den Tipp. Das weiß ich auch."
"Dann ist ja alles wunderbar", grinst sie. Naja, wenn man es so sehen möchte.
"Filleif haft du auf eimfach eimem flechten Tag." "Kannst du bitte erst schlucken und dann nochmal zu mir sprechen? Und jetzt fang bloß nicht an zu lachen, sonst bekomm ich dein Essen noch ins Gesicht."
  Ein Grinsen huscht über ihre Lippen, die kaum dazu fähig sind, sich zu verziehen, weil sie so viel auf einmal abgebissen hat.

*

"Und jetzt? Willst du schon heim?" Das wär der letzte Ort, wo ich jetzt hinwill.
"Seh ich so aus?" "Jap, du wünscht dir nichts sehnlicher. Das seh ich dir an." Schön, dass ich so eine sarkastische Freundin habe.
"Also auf in die Shopping Mall!" "Wenn du arm werden willst, ist das der beste Weg."
  Wie immer wusste ich nicht, auf was ich gerade Lust hatte. Oder vielleicht hatte ich auch auf gar nichts Lust. Wie immer.
  Sydney zieht mich hinter sich her wie einen Hund. Soll ich bellen? "Wuff!" "Okay okay, ich hab's kapiert", kläffte sie zurück und lockert ihren Griff. Jetzt muss ich doch grinsen.
  "Sydney?"
  "Claire?"
  "Ich muss noch Geschenke kaufen!"
  "Du bist ja früh dran!", lacht sie mich aus.      "Immerhin hast du ja noch zwei Tage", scherzt sie.
"Danke für deine Hilfe. Lass uns Schlittschuh laufen gehen." Habe ich schon erwähnt, dass ich eine ziemlich unentschlossene Person bin?
  "WAS?!"
Also du müsstest mich doch jetzt langsam mal kennen, Kind.
  "War das nicht klar, dass ich eh keine Ahnung von meinen Zukunftsplänen hab?" "Doch, aber so krass?" "Komm, wir gehen einfach. Macht doch Spaß!"
  Jetzt ziehe ich sie hinter mir her wie einen Besen.
  "Claire, die Unentschlossenheit in Person. Ein schöner Filmtitel. Wann wird dein Leben verfilmt?"
  "Spinnst du komplett?", frage ich sie und schiebe sie in die nächstbeste Ubahn, die zum Eislaufzentrum fährt.
  "Das wird ein ganz schönes Klischee, weißt du das?" "Na und? Ich mag Klischees. Nein! Ich liebe Klischees. Klischees sind toll. Klischees sind..." "Sag noch einmal Klischee und ich hau dir eine runter!" "Aber Klischees sind-" "Ja ich weiß, toll und super und klasse und megagenial und-" "Och bütte halt die Klappe", scherze ich.
  Als wir die Schuhe fertig geschnürt haben, trauen wir uns langsam in die gutgefüllte Halle. In dieser Sekunde sehe ich nur noch einen Pfeil auf mich zuschießen und kann nicht mehr ausweichen. Sydneys Rufe höre ich schon dreimal nicht, sondern werde einfach nur von einem wahnsinnig schnellen Eisläufer umgenietet.

Sepia TimesWhere stories live. Discover now