{no. 10} Mum, Dad und "kein John"

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Dienstag Abend, 29.12.15

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Claire

Meine Mutter sitzt neben meinem Krankenbett und redet auf mich ein. Ich will es nicht hören, will einen Reißverschluss über ihrem Mund zuziehen. Was sie sagt, verstehe ich sowieso nicht. Ich höre ihr nicht zu.
Neben ihr sitzt mein Dad und hat seine Hand auf die meiner Mutter gelegt. Er sieht so unendlich traurig aus. Seine Augen sind auf den Boden gerichtet, ich weiß nicht, was er dort zu finden hofft. Plötzlich richtet er seine Aufmerksamkeit voll auf Mum.

"Schatz, du kannst nichts erzwingen. Es muss von ihr selbst kommen. Sei doch froh, dass es ihr wenigstens gut geht."

"Ich mache mir doch nur so große Sorgen, Ethan", beteuert sie. Sie scheint um Jahre gealtert.

"Aber damit hast du ihr nicht geholfen, Lele."

Voller Einsicht sieht Mum nun zu Boden. Ich überlege, es ihr gleichzutun, vielleicht ist da unten ja wirklich etwas interessantes zu entdecken.
Es ist so erschreckend, dass in meinem Herz kein Platz für Gefühle übrig ist. Das einzige, was sich wie ein Virus dort hineingefressen hat, ist Trauer. Über den Verlust meiner lächelnden und nach außen hin unbeschwerten kleinen Rosie. Doch die Tränen sind versiegt. Das macht Mum und Dad Angst. Dass ich nicht mehr weinen und sprechen kann.

"Die Beerdigung ist morgen", durchbricht Mum die im Raum herumschleichende Stille.
Langsam aber gezielt hebe ich meinen Kopf und dabei knackt es eklig in meinem Nacken. Als hätte ich ihn schon Ewigkeiten nicht mehr benutzt. Mit starrem Blick sehe ich Mum an. Auch sie sieht mich an und ich beginne, nun doch etwas zu fühlen. Aber es ist nichts liebendes. Ich fühle mich... so seltsam. So alleine gelassen. Und das, obwohl meine Eltern im Raum sind und alles tun, um mir mein altes Ich zurückzubringen. Was ihnen nur leider nicht gelingt.

"Um 12 Uhr an der Friedhofshalle", fügt mein Vater noch hinzu. "Ihr Sarg wird offen sein. Und du darfst ihr etwas singen, wenn du möchtest."

Genau zu diesen Worten krampft sich mein Herz zusammen, als wäre jemand auf eine Plastikflasche getreten. Danke Dad. Du hast wenigstens etwas Leben in meinen Körper gebracht.
Damals habe ich meiner Schwester vorgesungen und die Lieder auf meiner Gitarre begleitet. Deshalb hat Dad das angesprochen.

Als ich ganz leicht nicke, vernehme ich wieder das Knacken im Genick. Dad hat meine Zustimmung gesehen und nimmt Mum am Arm.

"Komm Lele. Ich denke, es ist besser wenn wir jetzt gehen."

Noch ein trauriger Blick von Mum und sie stehen auf. Als sie schon fast die Tür erreicht haben, dreht Dad sich noch einmal um und fragt: "Claire, Liebes. Wer ist eigentlich dieser John?"

Voller Anstrengung und doch wie von selbst dreht sich mein Kopf zu ihm. Und als nach langem Schweigen immer noch keine Antwort, sondern ein lauter Atemzug von mir kommt, sagt er nur noch "Also dann... bis morgen." und beide verschwinden. Es ist, als wären sie nie hier gewesen.
Zum Glück ist meine Zimmernachbarin nicht da. Bestimmt würde sie sich mit mir unterhalten wollen. Furchtbar, Konversation. Widerlich.
Sie ist hier, weil sie versucht hat, sich wegen ihren Peinigern die Pulsadern aufzuschneiden. War aber scheinbar nicht intelligent genug dazu. Oh Mann... Mobbing ist doch krank. Naja, immerhin ein Überlebender mehr auf dieser Erde. Wie ich erfahren habe, war meine sechsjährige kleiner Schwester dabei erfolgreicher.
Tja, und ich bin hier, weil ich eine Woche lang im künstlichen Koma lag. Toll, oder? Warum, hat mir auch mein Arzt noch nicht gesagt. Aber ich bin sicher, bald werde ich es erfahren, jedenfalls gehe ich mal schwer davon aus.

Ich höre die Dusche mich leise rufen. Hab aber absolut null komma nada Lust, mich jetzt aus dem Bett zu quälen. Außerdem hänge ich am Schläuchlein. Und als in meinem Augenwinkel der Stuhl auch noch zu leuchten beginnt, stöhne ich mittelmäßig laut auf.

"Muss das denn immer sein?", richte ich genervt das Wort an den leider immer noch höllisch gut aussehenden John, der wie damals in der Nacht im Matsch neben mir aufgetaucht ist. Da bin ich aber noch erschrocken. Jetzt nicht mehr. "Meine Zimmernachbarin hätte da sein können!"

"Ist sie aber nicht", gibt er mit einem leichten Grinsen zurück. Ich will es ihm am liebsten aus dem Gesicht waschen. Mit einem Schwamm. Einem sehr sehr kratzigen Schwamm. Diese silbernen Dinger, mit denen man echt alles aus den Töpfen kriegt. "Wie geht's dir?", fragt er nett. Wie zum Henker kann man zu mir noch so freundlich sein? Ich bin bestimmt genauso krätzig wie dieser Silberschwamm.
"Sieh mich an. Wie denkst du, dass es mir geht?" Meine Stimme ist ziemlich unbenutzt und kratzt mich ebenfalls. "Ich will mir eigentlich nur die Zähne putzen, die Zeit zurückdrehen und meiner Schwester all die Wünsche erfüllen, die ich Vollidiotin ihr aus meinem Scheiß Egoismus verwehrt habe. Ich will ein normales Leben und keinen Freund, der aus dem Nichts auftaucht, meine tote Schwester von Was-weiß-ich-woher kennt und auch noch-" verdammt gut aussieht. Aber das sage ich ihm nicht. Muss sein Ego ja nicht auch noch pushen.

"Was?"

Mein unvollendeter Satz hängt noch immer in der Krankenhausluft herum.

"- und auch noch dumme Fragen stellt."

Ich starre ihm in seine dummen grünen wundervollen Augen. Mein Universum. Ich glaube, ich liebe ihn wirklich.

"Deine Eltern wissen wirklich nichts von mir, hab ich Recht?"

Was soll ich dazu schon sagen?

"Nur deinen Namen." Und sie wissen erst recht nicht, dass ich dich liebe.
Auf einmal steht er auf, stellt einen Stuhl ins Bad und sagt kein Wort.
Dann nimmt er mich am Arm, schlägt die sterile weiße Decke zurück, entfernt das Schläuchlein, hebt mich sachte hoch und trägt mich ins Bad, wo ich mich auf besagtes vierbeiniges Möbelstück setzen kann.

"Jetzt kannst du deine Zähne putzen."

Und als wäre das nicht eh schon das, was man von einem perfekten Freund erwartet, holt er meine Bürste aus meinem Kulturbeutel, von dem ich übrigens auch keinen Schimmer habe, wie der hierher gekommen ist, und beginnt, meine Horrorhaare zu bearbeiten. Mein Spiegelbild hat mir nämlich große Angst eingejagt.

Also putze ich meine Zähne. Wie er gesagt hat.
Als wir beide mit unserer Arbeit fertig sind, machen wir erstmal gar nichts. Ich habe die Zahnbürste am Waschbeckenrand abgelegt und fahre mir über die nicht mehr pelzigen Zahnoberflächen. Er steht einfach nur hinter mir und blickt mich im Spiegel stumm an.

"Morgen ist ihre Beerdigung", werfe ich in den Raum.

"Ich weiß", entgegnet er.

Aha. Achso. Und woher bitteschön? Aber gut, dann ist ja alles geklärt.

"Kommst du auch?" Ich glaube, diese Frage war das dümmste, was ich je gesagt habe. Mann Claire, du hast doch gesehen, wie die beiden sich verstehen. Also... im Traum zumindest. Wenn man Träumen Glauben schenken darf. Die waren aber ziemlich real muss ich zugeben. So eine Art Klartraum.
Oh. War da etwa eine Träne auf John's Wange? Oder seh ich auch noch schlecht? Abrupt dreht sich mein Oberkörper zu ihm um. Und weil ich eine Person bin, die Klischees anzieht wie ein Magnet, hebt mich mein "Engel" wieder hoch, als wäre ich ein Federgewicht und trägt mich Richtung Bett. Auf halber Strecke bleibt er plötzlich stehen, blickt mich lange an, ohne ein Wort, neigt seinen Kopf zu meinem herunter und für unendlich lange Sekunden habe ich ein Feuerwerk auf meinen Lippen. Das wundervollste Feuerwerk, das man sich nur vorstellen kann. Da kann kein Sommernachtstraum mithalten.
Als sich seine Lippen von meinen wieder lösen, habe ich das Gefühl, dass eine ziemlich lange Unendlichkeit hinter uns liegt und mein Herz vor lauter Klopfen bald explodieren muss. Meine Augen sind noch geschlossen, als er mich auf mein Bett legt und neben mir Platz nimmt. Und weil Worte das alles nur zerstören würden, und es schon spät ist, legt er sich einfach neben mich, platziert eine unglaublich warme Hand auf meinem Kopf und wir schlafen einfach ein.

Denn morgen wird meine Schwester beerdigt.

Sepia TimesDonde viven las historias. Descúbrelo ahora