{no. 12} Wenn du soweit bist...

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Mittwoch

Claire

-

Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich hoffe, dass es nicht meine Eltern sind und nehme das Gesicht aus den Händen.

Es ist John.

Mein Kopf fällt wieder in meine Hände.

"Ich kann das alles nicht mehr. Ich glaube, ich breche bald zusammen", nuschle ich in meine Greifwerkzeuge.

"Du hast mehr Kraft in dir, als du annimmst. Glaub mir."

Mein Kopf hebt sich langsam und dreht sich zu dem Jungen, den ich zu lieben glaube. Plötzlich wird mir klar, dass ich vielleicht nie mehr in meinem Leben das Gefühl haben kann, nach Hause zu kommen. Und damit meine ich nicht die eigenen vier Wände, sondern meinen Seelenfrieden.

"Dann müsstest du mir erstmal verraten, wer du bist. Und wer Rosie war."

Er seufzt und wendet seinen Blick ab. In dem Moment tauchen Mum und Dad hinter mir auf und ich erinnere mich, dass sie mich hier allein sehen.

"Schatz-", setzt Mum an, doch Dad unterbricht sie, weil er weiß, dass sie nicht erbauliches von sich geben würde.

"Wenn du etwas brauchst, sag Bescheid. Nimm dir so viel Zeit, wie du benötigst. Wir nehmen es dir nicht übel, wenn du Abstand brauchst."

Der Drang, meinen Vater zu umarmen wird unermesslich groß, doch er muss unterdrückt werden. Ich bin noch nicht bereit.

"Danke Dad." Mum kriegt nur einen neutralen Blick von mir, das war's auch schon wieder.
Ich erhebe mich auf wackligen Beinen und bewege mich Richtung John, der nur für mich einen rettenden Anker in dieser haltlosen Welt darstellt.

"Ich glaube, ich brauche dich jetzt." Mehr geht nicht.

Er nickt verständnisvoll und verschränkt seine Finger in meinen.
Ich habe eine so große Angst vor dem 'was nun', dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenkrampft.

Als wir uns in einem Park wiederfinden falle ich John kraftlos um den Hals und er fängt mich auf. Er ist scheinbar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit derjenige, der mich davon abhalten muss, etwas sehr sehr dummes anzustellen. Und vermutlich auch der Einzige, der dazu in der Lage ist. Alle anderen sind für diesen Moment, für diesen Augenblick und auch für viele weitere spätere Wimpernschläge, einfach verschwunden.

"Wann also willst du mit deinen Erklärungen anfangen?"

"Dann, wenn du bereit dazu bist."

"Und woher soll ich wissen, wann das ist?"

"Das wirst du schon noch rechtzeitig merken."

"Du willst damit also zum Ausdruck bringen, dass dieser Zeitpunkt noch nicht gekommen ist?"

"Sieh mal, Claire -"

"Nein nein, schon gut. Ich versteh schon."

"Du weißt, dass es nicht böse gemeint ist. Du bist ganz einfach noch nicht stark genug dafür. Dein Verlust ist noch zu frisch."

"Wie schon gesagt... es ist schon gut."

Und wieder fühle ich mich von meinen Gedanken und Erinnerungen wie vom Blitz getroffen. Rosie Rosie Rosie. Sie ist einfach überall. Rosie Rosie Rosie. Angestrengt versuche ich zu überlegen, ob ich nun stark sein muss und nicht weinen soll, oder ob ich einfach alle verfügbaren Ressourcen aufbrauchen und meinem Tränenfluss freien Lauf lassen soll. Als ob die Entscheidung sich rational ausführen lassen würde. Es ist doch alles das reinste Glücksspiel. Ein Karussell von Emotionen. Ein Pendel, das mich Höhen und Tiefen erleben lässt, während ich darunter stehe und mich die schaukelnde Abrissbirne mit sich fortzureißen droht.
Ich bin John gerade unendlich dankbar, dass er einfach neben mir steht und mich in Ruhe meiner Trauer nachhängen lässt. Wie lange stehen wir hier schon? Ist Rosie wirklich für immer verschwunden? Für immer in ihrer kleinen Ewigkeit gefangen?
Ich schließe meine Augen und drohe jeden Moment mein Gleichgewicht zu verlieren, sodass ich sie wieder aufreiße.

"Können wir irgendwo hingehen, wo Menschen sind? Glückliche Menschen?" Ich halte es hier nämlich keine Sekunde länger aus.

"Willst du vergessen oder verdrängen?"

"Weder noch. Ich möchte mich an unsere glücklichen Momente erinnern und sie für immer bei mir tragen." Sodass sich mein Für Immer irgendwann mit Rosies Für Immer vermischen kann und ich sie wiedersehe.

Während unserer kleinen Reise denke ich darüber nach, wie sehr ein Verlust Menschen verändert. Verändern kann. Womit ich wieder bei der Frage wäre, wer John denn nun wirklich ist. Oder wer er zu sein vorgibt. Wer ich bin und zu wem ich werde. Und am allermeisten beschäftigt mich, wer Rosie war. War sie wirklich meine kleine Schwester? Aber wenn nicht, wer war sie dann? John hat mehr als deutlich gemacht, dass ich es nicht von ihm erfahren werde. Zumindest nicht jetzt und nicht hier.
Einer Sache bin ich mir jedenfalls so sicher, wie sonst bei nichts auf der Welt. Ich liebe sie und auch wenn sie nicht mehr da ist, so wird sie doch immer ein Teil von mir sein, den ich niemals loslassen werde.

"Aber wir müssen eines Tages alle loslassen, Claire."

WIE BITTE?!?!?

"Was hast du da gerade gesagt?", quieke ich vollkommen erschrocken.

"Du hast mich schon richtig verstanden."

Ich entreiße meine Hand aus seiner und starre ihn an wie ein Reh in die Autoscheinwerfer starrt, kurz bevor es überfahren und getötet wird.
Ob Rosie auch so ausgesehen hat? Ich will gar nicht darüber nachdenken, denn dieses Bild schmerzt mich so sehr, dass ich meine, mein Herz wird mit bloßen Händen in zwei Teile gerissen.

"Wer zur Hölle bist du?"

"Wenn du soweit bist."

"Ich habe keine Lust mehr auf deine Heimlichtuerei, John!", brülle ich ihm entgegen. "Meine kleine Schwester ist tot, verdammt! Und du wirfst mir ständig irgendwelche Brocken hin, mit denen ich mich zufrieden geben soll! Aber wehe ich frage nach, was das alles zu bedeuten hat!" Sofort bereue ich es, ihn so angeschrien zu haben.

"Na siehst du, es ist einfach noch nicht die Zeit dafür."

Entkräftet sinke ich zu Boden und werde von heftigen Schluchzern geschüttelt. Ich wollte ihn nicht so anfahren. Er kann doch eigentlich gar nichts dafür, dass sie weg ist.

"Das weiß ich doch", unterbricht er mein Geheule. Was mich wieder zu dem Grund meines Ausrasters bringt.

Mit tränennassem Gesicht und rotzender Nase hebe ich meinen Blick. "Du kannst also..."

"Ja, ich kann Gedanken lesen." Das klingt so nach einem grottenschlechten Hollywoodfilm.

Er erwähnt nicht noch einmal, dass ich noch nicht bereit bin, also halte ich meinen Mund und atme tief ein und wieder aus. Ich habe das erdrückende Gefühl, gleich ersticken zu müssen.

"Lass uns gehen. Ich denke, das ist jetzt das Beste."

Mein Gesicht fühlt sich an, als hätte mich jemand verprügelt. Verschwollen und rot. Aber es kümmert mich gerade einen Scheißdreck. Ich möchte mal andere Leute sehen, die jemanden verurteilen, weil ein Familienmitglied verstorben ist. Wenn mich jemand blöd anschaut, bekommt er eins auf die Fresse.


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⏰ Last updated: Feb 21, 2017 ⏰

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