{no. 11} Mach's gut, little Rosie

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Mittwoch, 30.12.15

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Claire

Eigentlich bin ich vor ihm aufgewacht, doch der Junge mit meinem Universum in seinen Augen hat noch geschlafen. Und weil es erst 9 Uhr ist, lasse ich ihn.
Als er sich aber zu regen beginnt, drücke ich ihm einen sachten Kuss auf die Stirn.

"Morgen, Schlafmütze. Gut geschlafen?"

"Solange ich bei dir bin..."

Hach, Klischees. I love you.

"Wir müssen uns irgendwie fertig machen, denk ich."

Auf dem Beistelltisch steht mein Frühstück. Wieso haben die mich nicht geweckt? Oder John rausgeworfen? Das ist doch total ungern gesehen, wenn hier Menschen übernachten. Erst recht, wenn sie gemeinsam in einem Bett liegen. Meine Zimmernachbarin ist entweder wieder oder noch nicht da. Ist mir auch schnurz.

"Bist du sicher, dass du das kannst?", fragt er mich.

"Ich kann nicht anders", entgegne ich ihm. Es geht immerhin um meine Schwester. "Und ich darf auch nicht anders." Ich bin ja eigentlich nicht krank oder?
Halt. Moment. Lag ich etwa... oh scheiße. Wie auf's Stichwort kommt ein Weißkittel herein.

"Guten Morgen, Miss Barrington." Er streift John nur mit seinem Blick und nuschelt irgendwas daher. "Heute dürfen Sie ausnahmsweise raus. Aber nur, wenn ihre Familie gut auf Sie aufpasst."

Wohl eher das, was von ihr übrig ist.

"Haben meine Eltern Sie informiert?", wundere ich mich kurz.

"Allerdings."

"Würden Sie mir dann freundlicherweise auch verraten, warum genau ich hier bin?"

"Sie hatten einen Kreislaufzusammenbruch, der sich beinahe auf die Organe ausgewirkt hätte, hätten wur Sie nicht in ein künstliches Koma versetzt."

"Mhm."

"Ich lasse Sie dann mal alleine. Nachher kommt noch eine Schwester, um Ihre Werte zu checken."

Ich nicke nur schwach und merke wieder das widerliche Nacken-Knacken. Ist ja zum Kotzen, dieses Geräusch. Auf einmal beißt es mich in meinen Gedanken, wie eine Biene in den Hintern.

"Welches Datum haben wir, Doc?"

"Heute ist der 30. Dezember."

"Fuck."

"Alles okay?", fragt er mich. Er nervt. Er soll gehen. Jetzt.

"Ja ja, alles klar. Danke."

Er dreht sich tatsächlich um und verschwindet mit einem "Na dann viel Glück".

Mein Blick schnellt zu John, der seine Hand auf meine Schulter gelegt hat.

"Wir haben Weihnachten verpennt", stelle ich unnötigerweise fest.

"Wer braucht schon Weihnachten? Ist doch eh alles nur Coca-Cola Kacke."

Mit diesen Worten zieht er ein kleines Päckchen aus seiner Jackentasche.

"Und außerdem hab ich ja was für dich."

Ich will weinen.

"Danke", sage ich, und muss daran denken, dass Rosie ihr sechstes Weihnachten nicht mehr erlebt hat. Ob Mum und Dad zuhause irgendwas aufgestellt haben? Ich glaubs ja nicht.

Es ist ein Ring mit einer Gravur. Statt einem John & Claire lacht mir ein Claire & Rosie forever entgegen. Mein Herz klopft wie wild und ich falle ihm um den Hals, soweit das auf dem begrenzten Raum denn möglich ist.
"Es ist wundervoll!" Jetzt heule ich wirklich. Vor Freude und Trauer gleichzeitig. Ich hab keine Ahnung, was ich fühlen soll... Trauer, Freude, Schmerz, Liebe, Hoffnung? Kein Plan. Denn der Plan, den ich für heute habe, ist, zu funktionieren. Ich hoffe, dass das klappt. Ansonsten klappe ich, und zwar zusammen.

"Fangen wir an." Ich muss mein komisches Krankenhausnachthemd loswerden.

"Kannst du mir vernünftige Kleidung aus dem Schrank holen? Aber nichts schwarzes bitte."

Es ist ziemlich bunt. Und als ich fertig bin, beschließen wir, uns auf die Socken zu machen, noch bevor die Schwester mich untersuchen kann.
Damals, als Rosie drei Jahre alt war, habe ich ein Lied für sie geschrieben. Sie hat es gemocht. Jedesmal ist ein warmes Lächeln auf ihrem kleinen Kindergesicht erschienen und als das Lied zu Ende war, hat sie laut gelacht. Ein kleines süßes Kinderlachen. Denn damals konnte sie noch lachen. Als sie fünf wurde, ist es mehr und mehr verschwunden.
John hat meine Hand ergriffen und seine Finger mit meinen verschränkt. Keine Ahnung, wie ich in meinem Zustand eine Gitarre halten, geschweige denn die Akkorde spielen oder ein Lied singen soll. Aber ich bin es ihr schuldig. Die Sonne strahlt uns mit voller Kraft an, als würde sie sich über uns und unsere Situation lustig machen. Immerhin ist es Winter, ich habe Weihnachten im Koma verbracht, bald, will sagen morgen, ist Silvester und mein Leben ist bis auf John ein einziger fetter Haufen voller Scheiße. Der die Sonne reflektierende Schnee blendet mich in den Augen und John ist gezwungen, mir eine Sonnenbrille zu kaufen. Die Helligkeit des Tages schmerzt meine empfindlichen Nerven wie Nadeln und ich will einfach nur, dass meine Schwester am Leben ist.
An der Friedhofshalle angekommen, treffen mich die mitleidigen Blicke von Verwandten und Freunden. Meine Eltern lassen es sich nicht nehmen, mich in eine tränenreiche Umarmung zu ziehen. Ich sehe John in die Augen. Auch in ihnen kann ich nichts anderes als Trauer finden. Das Universum ist in ein tiefes schwarz getaucht. Meine Eltern lassen mich los und ich will ihnen John vorstellen. "Mum, Dad, das ist-", doch er unterbricht mich, indem er meine Hand quetscht und wie ein nasser Hund den Kopf schüttelt. "Nicht. Sie können mich nicht sehen."

Perplex starre ich ihn an. Und meine Eltern starren wiederum mich an. Vielleicht halten sie mich schon für verrückt. Vielleicht bin ich es ja auch schon.

"Schatz, was ist?", meint Mum voller Sorge.

Was soll ich denn jetzt sagen?!

"Das... ist... ich weiß nicht, ob ich das kann", stammle ich wie eine redebehinderte Kreatur.

Dad platziert eine Hand auf meiner Schulter. "Doch, Prinzessin, ich weiß, dass du das kannst. Du schaffst es."

"Danke", erwidere ich. "Ihr auch", füge ich noch hinzu.

Während ich mich langsam umdrehe und hineingehe, werden meine Erinnerungen wach und liefern sich in meinem Kopf ein krankes Wettrennen.
Rosie. Sie ist vier Jahre alt. Eigentlich hatte ich gerade Geburtstag, aber damit sie nicht traurig ist, weil ich Geschenke bekomme und sie nicht, haben meine Eltern ihr ein Fahrrad geschenkt. Vielleicht ein ziemlich großes Geschenk für ein Nicht-Geburtstagskind, aber mir hat es nicht das geringste ausgemacht. An diesem Tag hatte sie ein blaues Matrosenkleidchen an und wollte ihre ersten Fahrversuche unternehmen. Ich habe sie dabei unterstützt. Doch irgendwas nimmt meine Aufmerksamkeit in Anspruch und ich bin kurz abgelenkt. In dem Moment knallt meine kleine Schwester auf dem harten Beton auf und schürft sich voll das Knie auf. Ich renne zu ihr hin und will sie zu beruhigen. Aber sie weint nicht. Und vielleicht ist es das, was meine Schuldgefühle um das tausendfache verstärkt, und weil ich mir nicht anders zu helfen weiß, nehme ich sie einfach auf den Arm und trage sie hinein. Sie liebte Verbände, und obwohl ein Pflaster gereicht hätte, verbinde ich ihr Knie mit einer schönen großen weißen Mullbinde. Kurz darauf lacht sie mich schon wieder an.
In diesem gesamten Zeitraum hat sie kein Wort gesagt.

Wie die Zeit unerkannt an mir vorübergezogen ist, habe ich nicht gemerkt. Und als ich es realisiere, stehe ich bereits vor all den anwesenden Trauergästen, die Gitarre um den Hals, und meine gebrochene Stimme erfüllt den gesamten Saal. Das Gefühl der fallenden Tränen und das Geräusch der gebrochenen Herzen ist noch immer in mein Gehirn eingebrannt. Und als ich meinen Blick durch den Raum schweifen lasse und er schließlich an John hängen bleibt, bemerke ich auch sein von Tränen genässtes und glänzendes Gesicht. In diesem Moment fließen auch meine salzigen Trauerzeugen die Wangen hinunter und alles wird dunkel.
Nur der geöffnete Sarg wird von einem Lichtkegel angestrahlt. Man sieht den Oberkörper, ihre geschlossenen Augen. Ein Blumenkranz steckt in ihrem blonden Haar. Das einzige, was das Auto ihr vermacht hat, ist eine kleine Schramme oberhalb der linken Augenbraue. Ich löse mich von ihr und stürme nach draußen. Ein großer Stein lädt mich ein, auf ihm Platz zu nehmen. Ich vergrabe das Gesicht in meinen Händen und mein Körper wird von hemmungslosen nicht enden wollenden Schluchzern geschüttelt.

Die Tränen wollen nicht trocknen.
"Mach's gut, little Rosie."

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