Kapitel 1

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Clarisse starrte genervt auf den verängstigten Jungen unter sich, während sie ihren Fuß in seinen Bauch drückte. Ein Wimmern entfloh ihm.
"Du würdest lieber hier eingesperrt sein und dann nur unter strenger Bewachung freikommen anstatt deine Aufgabe zu erledigen? Ohne je deine Fähigkeiten ausprobieren zu können?! Du Feigling!", rief sie aus und kickte ihn. "Du jämmerlicher Waschlappen!"
Immer und immer wieder kickte sie ihn, bis seine Haut sicherlich blaue Flecken davontragen würde und vielleicht sogar ein paar seiner Rippen gebrochen waren. "Du bist ein Verräter deiner eigenen Artgenossen."
Dann drehte sie sich schwungvoll um und stürmte den Gang hinunter. Jeder wich ihr aus. Kam sie jemandem zu nah, versteckte derjenige sich ängstlich hinter seinen Freunden oder drückte sich so nah wie möglich an die Wand.
Sollten sie doch...immerhin war sie bereit dazu, für ein eigenes Leben zu kämpfen. Nicht so wie diese Angsthasen, die sich einfach unterwerfen ließen und alles hinnahmen.
In ihrem spärlich eingerichteten Zimmer setzte sie sich auf das breite Eichenholzfensterbrett. Ihr Blick fiel zu der grauen Mauer mit dem Stacheldrahtzaun. Sie hatte schon öfters in dieser nach einem Loch oder irgendwelchen Erhebungen gesucht, doch sie war einfach zu glatt, um an ihr hochzuklettern.
Oh, wie Clarisse dieses Leben hasste. Dauernd wurden sie behandelt wie Schwerverbrecher und Monster. Jedes Wort und jeder Schritt von ihnen wurden kontrolliert. Eingesperrt hinter diesen unüberwindbaren Mauern bis sie die Endprüfung im Alter von 25 Jahren bestanden hatten.
Das Mädchen knurrte. Man konnte dies nicht einmal ein Leben nennen.
Die meisten waren schon gebrochen, doch sie war es nicht. Und sie würde sich den Anführern auch nicht unterwerfen. Diese waren einfach nur Mistkerle, die zu machtbesessen waren, um zu begreifen, dass es das Schicksal ist, die Erde wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Und dass sie es nicht aufhalten können.
Könnte Clarisse ihr Element benutzen, hätte sie es schon längst getan. Aber wie bei jedem anderen Elementar hier wurde ihre Kraft, darauf zuzugreifen, durch die Rubinarmbänder unterbunden. So konnte sie nur nachdenken und versuchen, andere auf ihre Seite zu ziehen. Was verdammt schwer war.
Sie erinnerte sich noch bruchstückhaft an ihre Kleinkindjahre. Als sie von den Hebammen liebevoll umsorgt wurde.
Babys und Kleinkinder wurden auf der Station im nördlichen Bereich der Akademie von Hebammen aufgezogen.
6- bis 13-jährige lebten in Mehrbetträumen östlich der Kinderstation. Manchmal schliefen sogar bis zu 20 Kinder in einem Raum und in jedem Zimmer waren auch immer Aufpasser.
Vierzehn bis einundzwanzigjähre wohnten im Gebäude westlich der Station. Keine Aufseher mehr, außer in den Fluren in der Nacht. Auch konnten nur noch maximal drei in einem Zimmer wohnen.
Im Alter von 22 bis 25 Jahren wurde man schließlich geprüft, ob in den Elementaren irgendeine Art von Widerstand zu sehen sei und wie gut sie sich in die Gesellschaft eingliedern könnten. Die wohnten noch einmal nördlich der Station.
Schaffte jemand diese Prüfung nicht, verschwand er von der Bildfläche.
Glocken erklangen und kündigten das bevorstehende Abendessen an. Also machte sie sich auf den Weg und tauchte in der Menge unter.
Geplauder und Gelache erfüllten den Flur und ließen ihre Ohren dröhnen. Auch dies war ein weitere Punkt auf der Liste der Dinge, die sie hasste.
Die Mensa lag mittig der Wohngebäude. Ein riesiger Raum. Da jedoch kaum Platz für jeden Schüler war aßen hier nur die Teenager und Erwachsenen das Essen.
Der Linoleumboden war fast immer dreckig und bildeten so einen starken Kontrast zu den verzierten Ebenholzwänden.
Drei lange Holztische mit einfach Bänken und ein weiterer Tisch für die Lehrer waren hier aufgestellt.
Die Mahlzeiten fielen kläglich aus. Kleine Portionen, kein Nachschub und auch so gar kein guter Geschmack oder Geruch. Heute stand wieder Lasagne auf dem Plan. Oder, wie Schüler sie nannten, Nudeln á la Kotze.
Angewidert nahm Clarisse einen Teller und das Besteck auf einem Plastiktablett entgegen entgegen und setzte sich so weit weg von den anderen wie es ging. Also an dem Ende des rechten Tisches, welches am weitesten von der Küche und den Lehrern entfernt war.
Normalerweise stopfte sie das Essen in sich rein, um es dann größtenteils wieder auszukotzen, aber heute stocherte sie nur lustlos darin rum. Ihr Körper war schon längst beängstigend dünn deshalb. Wobei der Sport, den sie regelmäßig machte, dabei auch nicht sonderlich half.
Sie wünschte sich nur ein besseres Leben. Etwas, das ihr von Beginn an verwehrt geblieben war. Immerhin durften sie sich noch die Klamotten selbst aussuchen und wie ihre Zimmer dekoriert werden würden. Wobei es auch hier bestimmte Grenzen gab. Nichts zu aufwendiges oder zu teures.
Ein Vorteil unter tausenden von Nachteilen.
Der Nachteil hierbei war, dass sie dir das Gefühl geben wollten, du wärest zuhause und nicht in einer Art Gefängnis.
Doch das war nicht wichtig. Wichtiger war es jemanden zu finden, den sie in ihre Pläne einwickeln konnte. Jemand, der wie sie diese Schule und die Anführer der vier Nationen verachtete.
Ihr Blick glitt in der Mensa herum, bis sie schließlich missmutig aufstand und in ihr Zimmer zurückkehrte.
Einfach viel zu viele sahen glücklich aus. Sei es nur gespielt oder nicht. Keiner traute sich aufsässig zu werden, weil niemand sterben wollte. Jeder von ihnen wollte leben.
Für Freiheit musste man aber nun einmal kämpfen und somit den Tod in Kauf nehmen. Das war eine unvermeidbare Tatsache.
Clarisse zog ihre Schlafsachen bestehend aus einem weißen Nachthemd an. Von der Kommode nahm sie ihren schwarzen mit Ornamenten verzierten Kamm und ein kleines Täschchen mit Waschutensilien. Dann schlenderte sie zum Mädchenbadezimmer.
Zu ihrem Glück war noch niemand da.
Clarisse bürstete sich mit dem Kamm durch ihr hellblaues Haar. Aber es war kein himmelblau, sondern noch heller. Angeblich hatte sie es von ihrer Erzeugerin geerbt. Das meinte jedenfalls die Hebamme, die sie in den ersten fünf Jahren aufgezogen hatte.
Sie nannte ihre Eltern Erzeuger, weil sie sie nie kennengelernt hatte und das auch nie geschehen wird. Wieso also die Wahrheit verschleiern? Sie haben sie gezeugt und nach ihrer Geburt an eine Hebamme gegeben, die sie dann hier hergebracht hatte. Ob sie es dabei wollten oder nicht war egal. Ihre Eltern hätten ja auch mit ihr irgendwo hin fliehen können. Sie hätten für sie kämpfen sollen.
Ihre Augen funkelten leicht. Diese Augen, die jeder Geistelementar von Geburt an hatte. Das rechte schwarz, das linke weiß. Ein ganz offensichtliches Zeichen für jeden 'normalen' Elementar, dass diese Person in ihrer Gesellschaft ungewollt ist.
Nachdem sie sich auch noch die Zähne geputzt hatte ging sie dann zurück zu ihrem Zimmer. Clarisse war aber so in Gedanken versunken, dass sie den Jungen nicht bemerkte, der ihr entgegenkam, weshalb sie letztendlich zusammenstießen.
"Pass doch auf, wo du hinläufst!", schnauzte sie ihn an.
Mit gelassenem Gesichtsausdruck ließ er seinen Blick nur kurz über sie gleiten, bevor er sich umdrehte und einfach weiterging. "Pass selber auf."
Perplex schaute sie ihm nach und registrierte nur langsam, was da gerade passiert war.
Dieser Typ hatte nicht wie die anderen regiert. Nicht so ängstlich und auch nicht den Tränen nahe. Auch hatte er sich nicht bei ihr entschuldigt.
Stimmen erklangen vom Treppenbereich, weshalb sie hastig ihre Sachen aufsammelte und in ihr Zimmer verschwnd.
Clarisse fragte sich, wer dieser Junge war. Sie hatte ihn noch nie zuvor hier gesehen, also musste er neu sein. Und das wiederum hieße, dass er sich für eine sehr lange Zeit hatte verstecken können vor den Clankriegern und deren Anführern.
Ein teuflisches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Sie wusste nun, wer ihr nächstes 'Opfer' war.

Kapitel 1~
Ab jetzt werd ich - wie schon angekündigt - jeden Sonntag ein Kapitel hochladen.
Und ich weiß, dass dieses Kapitel nicht so spannend war. Ich wollte euch erst einmal in das Akademie-Leben einführen.
Kritik? Her damit :D
Das angehängte Bild ist die unbearbeitete Version des Covers. Nicht wundern, dass es anders aussieht x3

Geist - Das SündenelementOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz