Das Verdrängen

270 30 14
                                    

Berlin, im April 2012

Würde man Irina Kovalenko fragen, was sie in der kurzen Zeit, in der sie sich nun schon in Deutschland aufhielt, bisher gelernt hatte, so würde sie definitiv antworten, es sei die Fähigkeit, ihren Geist von dem abzuspalten, was gerade mit ihrem Körper geschah.

Sie war in Wahrheit gar nicht wirklich hier. Sie war an einem besseren, schöneren Ort.
Sie spürte unter ihrem nackten Körper nicht den rauen Stoff eines schmuddeligen Bettlakens. Sie spürte warmen Sand und war jetzt eigentlich an einem Strand.
Der Schweiß, der sich über ihre zarte, helle Haut verteilte, stammte nicht von einem alten, ekligen Mann über ihr. Es war ihr eigener Schweiß, der ihren zierlichen Körper überzog, weil es an diesem Strand in ihrer Fantasie so heiß war. Der moderige Geruch von diesem Typen, der sie gerade fickte, könnte genau so gut auch von einem Hafen in der Nähe des Strandes stammen. Vielleicht waren gerade Fischerboote zurückgekommen, die ihre Abfälle abgeladen hatten und der Geruch wurde von einer sanften Brise zu der Stelle rüber getragen, an der sie lag.

Endlich wurde der Typ fertig und stieg von ihr runter. Mit dem hatte sie eigentlich wirklich Glück gehabt. Obwohl er ein mehr als abstoßendes Erscheinungsbild hatte, gehörte er zu den angenehmsten Kunden. Sie musste bei ihnen einfach nur daliegen und kaum selbst etwas tun. Für diese Kunden könnte sie genauso gut auch eine Gummipuppe sein. Diese Männer waren so verzweifelt, dass sie rein gar nichts verlangten, obwohl sie eine stolze Summe pro halber Stunde zahlten. Sie waren einfach nur froh darüber, dass das Objekt unter ihnen warm war und einen Puls hatte. Sie waren froh darüber, dass sie nicht wie sonst üblich ihre Hand, ein Fleshlight, ein zusammengerolltes Kissen, eine ausgehöhlte Melone oder was auch immer sich Männer sonst noch so einfallen ließen, ficken mussten.

Einen Namen kannte sie von dem Mann, der sich gerade wieder in seinen Anzug quetschte, nicht. Namen nannten sie ihr eigentlich alle nicht. Darum gab sie, zumindest den wiederkehrenden Stammkunden, selbst welche.
Dieser hier zum Beispiel war die Schildkröte. Jedes Mal, wenn er einen Orgasmus hatte, zog er seinen Kopf etwas nach hinten, so als ob er in einen Panzer schlüpfen wollte.

„Also dann...ähm...ich...ich...ich geh dann mal", sagte die Schildkröte und gab dabei einen Blick auf sein nur noch halb vollständiges, gelbes Gebiss frei.
Irina stand vom Bett auf und wickelte sich ein Tuch um den Körper. „Danke, dass du da warst Süßer. Ich hoffe, du kommst bald wieder?", fragte sie ihn mit einem falschen, zuckersüßen Lächeln.
Sie begleitete die Schildkröte noch bis zur Tür ihres kleinen „Arbeitszimmers" und schloss diese dann mit einem tiefen Seufzen.

Sie ging in das kleine Badezimmer des kleinen, mit roten und schwarzen Wänden gestrichenen Raumes und wusch sich unter der Dusche die Überreste der letzten viertel Stunde ab. Die Schildkröte zahlte immer für eine halbe Stunde, hielt aber nie so lange durch und verzog sich dann jedes mal mit schamrotem Gesicht vor Ablauf seiner Zeit.

Irina ging zu der kleinen Kommode und suchte sich das nächste, saubere Outfit heraus, das lediglich aus String, Strapse und einem halbdurchsichtigen Kleid bestand. Vor ein paar Monaten noch wäre es undenkbar für sie gewesen, sich in einem solchen Aufzug vor Fremden zu zeigen. Aber diese Zeit lag jetzt schon längst hinter ihr.
Als sie sich den Hauch von Nichts übergestreift hatte, schlüpfte sie in ihre High Heels und ging runter in die Bar, um sich den nächsten Kunden zu holen.

Ihr Körper verlangte dringend nach einer Pause, aber die konnte sie sich nicht leisten. Viel zu wenige Kunden kamen in letzter Zeit und es herrschte ein regelrechter Krieg unter den Mädchen, da sie alle dringend das Geld brauchten. Sonst wären sie ja auch nicht hier.

Für das Zimmer war täglich eine Miete von hundertfünfzig Euro zu zahlen. Gnädigerweise waren in diesem Preis pro Tag eine Packung Küchenrolle, sowie ein Päckchen Kondome inbegriffen.
Zudem gab es ein Telefon, einen Fernseher und ein kleines Badezimmer. Im Keller befanden sich ein Pausenraum mit Kaffeeautomaten, eine kleine Kantine, sowie ein Solarium. Das alles konnte sie nutzen, ohne dafür zu zahlen.
Die Zimmer im fünften und sechsten Stock kosteten lediglich achtzig Euro am Tag, dafür hatte man jedoch auch viel weniger Kunden, da es keinen Aufzug gab und vielen der Weg nach oben dann einfach zu anstrengend war.
Natürlich konnte sie nicht all das Geld behalten, das sie verdiente. Zusätzlich zur Miete musste sie vierzig Prozent ihres kompletten Gewinnes am Ende des Tages abgeben.
Wenn so wenig Kundschaft wie in diesen Tagen kam, konnte es sein, dass man gerade so das Geld für das Zimmer zusammen bekam und letztendlich umsonst gearbeitet hatte.

Sie ging runter und setzte sich neben ihre Kollegin Svenja an die Bar. Wie sie erwartet hatte, blieb die Bar erst einmal eine ganze Weile leer.
Erst zwei Stunden später öffnete sich endlich die Tür und vier junge Männer wurden vom Bordellbetreiber zu den Mädchen geführt.

Mädchen, mach die roten Lichter aus!Where stories live. Discover now