Der Selbstbetrug

259 31 14
                                    

Berlin, im Oktober 2012

Ein halbes Jahr war nun bereits vergangen, seitdem diese seltsame Band im Bordell gewesen war und Irina hatte es schon vollkommen vergessen, bis ihre drei Kolleginnen eines Morgens zur Arbeit kamen und ihr vom gestrigen Abend berichteten.
Je mehr die drei von diesem Konzert erzählten, umso schlechter wurde ihr.
Doch irgendwo fragte sie sich auch, ob sie den Job nicht doch gemacht hätte, wäre sie gefragt worden. Der Zeitraum, für den sie ihren Aufenthalt in Deutschland geplant hatte, war schon lange abgelaufen und es war auch noch lange kein Ende in Sicht. Das, was sie verdiente, reichte gerade so, um ihrer Familie genug Geld für das alltägliche Leben zukommen zu lassen. Die Summe, die sie ansparen wollte, bevor sie wieder zurück in die Heimat ging, hatte sie noch längst nicht voll. Da sie ja selbst ebenfalls ein bisschen was zum Leben hier brauchte, sah es derzeit auch nicht so aus, als ob sie diese Summe jemals erreichen würde.


Doch so langsam fand sie sich damit ab, dass aus den paar Monaten eher Jahre werden würden. Sobald ihre Geschwister alt genug wären, um selbst arbeiten zu können, wäre man nicht mehr komplett auf sie angewiesen und sie könnte endlich wieder zurück. Dieser Gedanke hielt sie einigermaßen aufrecht und ließ sie das alles, wenn auch nur sehr mühselig, ertragen.
Sie war ja, im Gegensatz zu anderen hier, nicht vollkommen ohne Perspektive. Es gab da nämlich noch diese Mädchen, die im Drogensumpf versanken und nur arbeiteten, um sich den nächsten Schuss leisten zu können. Sie machte das, was sie hier Tag für Tag tat, mit einem guten Grund. Manch andere taten es nur für sich, dabei waren sie sich selbst im Grunde schon lange egal.
Wenn sie sich das jeden Tag wieder sagen würde, würde sie es vielleicht irgendwann auch selbst glauben.

-

Ein halbes Jahr später war Benni noch immer mit Eva zusammen. Trotz der zwischenzeitlichen Unzufriedenheit hatte er es irgendwie geschafft, seine Beziehung zu retten. Wie er das genau geschafft hatte, konnte er sich selbst nicht genau erklären.
Vermutlich lag es an einem Gespräch mit seiner Großmutter, irgendwann im vergangenen Sommer. Stundenlang hatte er mit ihr im Garten gesessen und sich zum hundertsten Mal Geschichten aus seiner Kindheit angehört, während sie gemeinsam ein altes Fotoalbum betrachtet hatten.
Benni hatte darauf eigentlich so überhaupt keinen Bock gehabt. Aber neben seiner Mutter war seine Großmutter die einzige Frau, die er so wirklich respektierte, also hatte er es nickend und lächelnd über sich ergehen lassen.

Sie hatte ihm erzählt, wie sehr sie sich endlich über ein paar Urenkel freuen würde, obwohl sie genau wusste, dass Benni der Einzige war, der ihr diesen Wunsch erfüllen könnte. Sie wusste auch, dass er das für sich mit Nachdruck ausschloss, denn er konnte es sich einfach nicht vorstellen, sein Leben lang mit einer Frau zusammen zu sein und sich auch noch um kleine Menschen kümmern zu müssen, die für ihn im Grunde nichts weiter waren, als etwas bessere Haustiere.
Vor allem jetzt, wo die Sache mit Plan B so richtig an Fahrt aufzunehmen schien, konnte er sich das noch viel weniger vorstellen, als ohnehin schon.
Aber irgendwie hatte ihn seine Großmutter auf eine beschissene, nervige Art und Weise etwas sentimental gemacht und er machte sich ein paar Gedanken. So übel war Eva ja jetzt auch nicht. Wenn er gerade arbeitstechnisch nichts zu tun hatte, dann belagerte sie ihn schon ständig. Aber wenn er etwas zu erledigen hatte, dann ließ sie ihn größtenteils ohne Gemecker sein Ding durchziehen, da sie wusste, wie wichtig ihm seine Karriere war. Das wusste er ja schon zu schätzen.
So, wie er es bei seinen Kumpels mitbekam, war das schon eine Seltenheit und darum beschloss er, Eva erst einmal noch zu behalten.
Vielleicht würde er ja wirklich irgendwann mal total überschnappen und dieses „Haus bauen, Baum stecken, Kind machen"-Spielchen spielen wollen.
Und wenn, so musste er sich eingestehen, wäre Eva dann doch die erste Wahl dafür.
Wenn er sich das jeden Tag wieder sagen würde, würde er es vielleicht irgendwann auch selbst glauben.

Mädchen, mach die roten Lichter aus!Donde viven las historias. Descúbrelo ahora