Das Grauen

199 30 22
                                    

Berlin, im Dezember 2012


Das Bild, das sich Benni bot, als er Irinas Zimmer betrat, war alles andere als schön.
Ihre Arme waren völlig zerkratzt, ihre Lippe blutete. Das Make-Up in ihrem Gesicht war viel zu dick aufgetragen worden. Offenbar hatte sie dort schnell noch versucht, ein paar Kratzer zu überschminken, bevor der nächste Kunde kam, was ihr ganz und gar nicht gelungen war. Wahrscheinlich würden in den nächsten Stunden auch noch eine Menge blaue Flecken dazu kommen.
„Schon gut", murmelte Irina und drehte sich von Benni weg.
„Nichts ist gut. Was ist passiert?", fragte dieser und ging um sie herum, um wieder vor ihr zu stehen.
Irina drehte sich zum Fenster und stützte sich am Fensterbrett ab. „So etwas ist mir bisher noch nie passiert. Aber vielen anderen Mädchen schon. Es ist egal, wirklich. Das kommt so schnell bestimmt nicht mehr vor."
„Hat der Kerl dich geschlagen?", fragte Benni überflüssigerweise. Es war klar ersichtlich, was gerade mit Irina geschehen sein musste.
„Er wollte mir nicht den vollen Preis geben", seufzte Irina und Benni konnte von hinten sehen, wie ihre Schultern leicht bebten. Es zerriss ihm fast das Herz.
„Und was hast du dann gemacht?"
„Ich hab ihm gesagt, dass er mir das ganze Geld geben soll. Wenn nicht, drücke ich den Alarmknopf."
Benni stellte sich ganz nah neben sie, ohne sie jedoch zu berühren. „Und dann?", fragte er sanft.
„Dann hat er nur gelacht", schluchzte Irina und wischte sich sofort die aufkommenden Tränen aus dem Gesicht. „Er meinte, ich kann den Knopf ruhig drücken, es wird keiner kommen."

Benni legte ganz vorsichtig seinen Arm über Irinas Schultern und spannte sich automatisch dabei an. Ob das jetzt das richtige in diesem Moment war, wusste er nicht, aber er hatte einfach das Bedürfnis, es zu tun. Irina regte sich nicht, zuckte aber auch nicht vor seiner Berührung zurück.
„Er hat den Aufpasser bestochen", sagte sie leise.
„Und deshalb ist er nicht gekommen, um dir zu helfen."
„Er war überhaupt nicht auf dem Stockwerk. Ich habe den Knopf gedrückt, und das hat den Typen richtig sauer gemacht."
„Scheiße", murmelte Benni. „Wie kann das sein? Wo ist dann der Sinn von diesen Aufpassern?"
Irina stieß ein bitteres Lachen aus. „Die gehen so lange ihrem Job nach, bis jemand kommt und sie besser bezahlt. Hier guckt doch jeder nur auf sich selbst. Es geht immer nur um Geld, um nichts anderes."
„Das... das tut mir Leid", sagte Benni und schluckte schwer.
Während sie zusammen aus dem Fenster blickten, konnten sie einen Porsche vom Parkplatz wegrasen sehen.
„Ich hab mir das Nummernschild gemerkt. War das der Wichser? Geh zur Polizei", meinte er und tippte das Kennzeichen in sein Smartphone, bevor er es wieder vergaß.
„Ich kann nicht zur Polizei. Die dürfen doch nicht mal wissen, dass ich überhaupt in Deutschland bin."

Benni nickte peinlich berührt. Warum das so war, hatte sie ihm ja schon mal erzählt.
„Kann euer Chef... wie heißt er nochmal... Ronny? Kann der da nichts machen?"
Irinas Schultern bebten und sie musste auflachen. Im nächsten Moment schluchzte sie wieder. „Oh Benni", sagte sie nur.
„Das kann doch nicht sein, dass da niemand was machen kann."
„Doch, so ist es aber. Du hast doch gesehen, mit was für einem Auto der Kerl hier weggefahren ist. Meinst du wirklich, dass Ronny den als Kunden verlieren will? Nur, weil er sich mal nicht ganz korrekt verhalten hat, als er bei einer von uns... Kakerlaken war? Ich bin hier nichts wert, Benni. Absolut gar nichts. Da draußen auf der Straße sind genug Mädchen, durch die ich jederzeit ersetzt werden könnte. Wenn ich mich hier über irgendwas beschwere, bin ich draußen. Ich kann doch nirgends hin, ohne Papiere. Ich darf nicht arbeiten, ich kann keine Wohnung mieten. Wo soll ich denn hin? Sobald ich irgendwo aufgegriffen werde, werde ich zurück nach Hause geschickt, oder noch schlimmeres."

Es lag Benni auf der Zunge, sie zu fragen, ob es denn nicht letztendlich besser für sie wäre, wieder nachhause geschickt zu werden. Doch es stand ein selbstloser Plan hinter allem, was sie hier tat. Sie hatte sich dafür entschieden, so viele grausame Dinge über sich ergehen zu lassen, um ihrer Familie zu helfen. Sie schien sich absolut sicher darin zu sein, dass es das Beste war, was sie tun konnte. Benni hatte keinerlei Recht dazu, dies in Frage zu stellen.

Mädchen, mach die roten Lichter aus!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt