*26 Schuld

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Nach wenigen Wochen hatte sich mein Leben halbwegs wieder beruhigt. Das klingt jetzt erstmal ziemlich seltsam, aber wenn man mal ehrlich darüber nachdachte, stimmte es so: Will, Amelia, Luke Kyle und ich lebten zusammen in dem großen Haus am Feldrand. Amelia und Luke hatten mit ihrer Zukunft mit dem Baby zu tun, Will und ich planten unseren Auszug. Kyle hatte noch immer keine Ahnung, dass Noah nie wiederkehren würde, aber Luke bat mich so gut wie jeden Tag drei Mal, es ihm nicht zu sagen. Es war echte Bruderliebe, die ich in seinen Augen sah, also ließ ich es.

Die Wächtertreffen, die nun immer einmal im Monat stattfinden sollten, würden Morgen bei Elena starten. Will und ich hatten beschlossen, etwas früher zu ihr zu reisen, da sie sowieso eine ordentliche Vorstellung von Will verlangte und wir schon lange nicht mehr gemeinsam draußen waren. Gerade waren wir dabei, unsere Sachen zu packen.

Ich trug wie so oft meinen schwarzen Geburtstagspulli und musterte kritisch den Schrank. Gähnend kam Will aus dem Bad und fragte: "Was ist los, Babe?" Ich schnaubte und zog eine Hose heraus. "Ich brauche andere Klamotten für das Wächtertreffen und weiß nicht, was ich mitnehmen soll!" Er kam zu mir und fuhr mir von hinten unter den Pullover. "Lass doch das hier an, das ist gemütlich und ich kann damit angeben." Ich verdrehte meine Augen und drehte mich zu ihm um. "Das ist mein Ernst, Will! Ich muss irgendwas ordentliches finden! Wieso besitzt du eigentlich nur Pullis oder Shirts? Kein einziges Hemd ist im Schrank!" Er zuckte mit den Schultern. "Brauche ich nicht. Zumindest nicht oft. Wenn ich mal ein Hemd brauche, nehme ich eins von meinem Dad." Frustriert drehte ich mich wieder zum Schrank um. Meine Klamotten waren damals mir unserer Wohnung verbrannt, demnach hatte ich nur Will's größtenteils zu große Garderobe zur Verfügung. Ich hatte zwar drei ver eigene Hosen und den schwarzen Pulli, doch den Rest teilten wir. "Weißt du, wir sollten mal shoppen gehen. Ich kann nicht für immer deine Sachen tragen...", meinte ich und zog ein schlichtes weißes T-Shirt heraus. "Wieso nicht? Du siehst süß in meinen viel zu großen Shirts und Pullis aus. Außerdem mag ich es, wenn meine Sachen nach dir riechen." Ich wurde leicht rot, versteckte das aber gut. "Dass ich eigene Kleidung habe heißt ja nicht, dass ich aufhöre, deine zu tragen.", argumentierte ich dann und legte das Shirt in den Rucksack. Will murmelte ein "Gut." und gähnte nochmal. "War es eigentlich wirklich nötig, schon um 6 aufzustehen?" Amüsiert drehte ich mich zu ihm um. "Ist es der werte Alpha nicht gewohnt, so früh wach zu sein?" Er schaute mich beleidigt an. Ich zuckte mit den Schultern und sagte: "Während meiner Schulzeit bin ich immer um diese Zeit aufgestanden! Und unser Zug fährt um halb acht, wenn ich dich erst um sieben geweckt hätte, wärst du nie fertig geworden!" Er zuckte mit den Schultern. "Auch wieder wahr..." Ich schloss den Rucksack, sah mich noch einmal im Spiegel an und nahm Will dann an der Hand. "Komm, in 40 Minuten müssen wir am Bahnhof sein und ich will vorher beim Bäcker vorbei!" Er lächelte und wir verließen zusammen das Zimmer. Schon auf der Treppe hörte man laute Stimmen aus dem Wohnzimmer und ich spürte zum ersten Mal seit langem wieder die Anwesenheit von Kyle. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, vorsichtig lugte ich um die Ecke. "... die ganze Zeit suchen lassen und hoffen lassen und kommst nicht auf die Idee, es mir zu sagen?!", schrie Kyle seinen Bruder an. "Ich... Ähm, ich wollte ja... aber... ich wollte dir nicht das Herz brechen.", antwortete Luke ziemlich kleinlaut. "Du hättest es brechen sollen, dann wäre es zwar schmerzhaft, aber kurz gewesen. Stattdessen hast du mich wochenlang hingehalten, ich bin vor Angst und Sorge und Verzweiflung fast-" Er roch mich und drehte sich schlagartig zu mir um. Seine Augenfarbe wechselte wütend zum Tierischen. Hastig drückte ich Will den Rucksack gegen die Brust und wurde im nächsten Moment schon von Kyle attackiert. Mit schnellen, kräftigen Stößen drückte ich ihn von mir und wechselte ebenfalls zum Wolf.

Du herzlose Schwuchtel! Was hast du Noah angetan?!

, beschimpfte er mich und ging erneut auf mich los. Ich wich geschickt aus und biss ihm warnend in die Flanke.

Du hattest kein Recht, sie sterben zu lassen! Sie gehörte zu mir!

Als Kyle erneut auf mich springen wollte, ließ Will einen Schrei los. "HEY!" Sein Beta zuckte zusammen und wir alle sahen ihn an. Sofort wurde ich wieder zum Menschen und sah ernst auf Kyle herunter, der seinen Wolf auch wieder verbarg. "Es tut mir leid, dass du Noah verloren hast. Aber vergiss nicht, dass ich sie ebenfalls geliebt habe. Es war nicht mein freier Wille, sie komplett gehen zu lassen.", sagte ich mit belegter, aber fester Stimme. "Du hattest trotzdem kein Recht dazu!", schrie Kyle verzweifelt und sackte auf den Boden. "Doch, das hatte ich. Leider.", meinte ich leise und sah zu Will, der über seinen Link von Luke erklärt bekam, worum es hier ging. "Ich kann sie nicht verlieren, verstehst du? Ich kann sie doch nicht aufgeben.", flüsterte Kyle leise und vergrub sein von Tränen nasses Gesicht in seinen Händen. "Was soll ich denn jetzt machen?" Mitleidig kniete ich mich neben ihn und berührte ihn sanft an der Schulter. Dann nahm ich von meiner Gabe gebrauch, meine Augen leuchteten auf, und ich zeigte ihm das letzte Bild von Noah, dass ich hatte: Hinter dem geschlossenen Tor im Jenseits, lächelnd und zufrieden. Schmerzhaft erinnerte ich mich an den Abschied von meiner Schwester und merkte, wie mir selbst ein paar Tränen die Wange runter liefen. Lange hielt ich die Erinnerung nicht aus, bis die Trauer übernahm und mich erneut der Schock überrollte. Meine Gabe verschwand wieder in meinem Inneren, ich nahm die Hand von seiner Schulter und sank selbst weinend auf die Knie. Sofort spürte ich Will's starke Arme um mich und kuschelte mich an seine Brust. "Es tut mir leid, Five.", murmelte Kyle leise und unsere verschleierten Blicke trafen sich. "Es tut mir auch leid, Kyle.", sagte ich leise und versuchte, endlich wieder die Kontrolle über meine Emotionen zu erlangen. "Wisst ihr was?", fragte Will und bekam so unsere Aufmerksamkeit. "Wir werden eine Beerdigung für sie abhalten, gleich wenn Five und ich wieder zurück sind." Kyle und ich sahen uns an und nickten schließlich. Eine Beerdigung. Ob ich anwesend sein würde, wusste ich noch nicht. Aber ich war der Wächter des Todes. Es wäre nur fair, auch Noah gegenüber. Doch eigentlich wollte ich mich mit diesem Thema nicht auseinandersetzen. Trotzdem. IcH schuldete es ihr irgendwie, oder etwa nicht?

Five (Werwolf boyxboy) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt