Kapitel 5 - Menschen

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Sie folgte ihm nicht, rief ihm nicht hinterher, um zu fragen, was zur Hölle er damit sagen wollte, was es bedeutete, oder um ihn am Ende sogar zu bitten zu bleiben. Ein Teil von ihm bedauerte es. Aber ein Teil war auch froh. Er wollte nicht weiter darüber reden. Es fühlte sich jetzt schon an, als hätte er zu viel gesagt, Geister der Vergangenheit geweckt, die man besser schlafen liess. Er fragte sich, warum er es überhaupt erzählt hatte. Und ob er damit irgendetwas bewirkte. Würde sie es überdenken und ihr Handeln ändern? Würde sie es nur ignorieren und mitsamt ihm auf die Liste der Dinge setzen, die zu vergessen waren? Er war sich sicher, dass es ihr zumindest in Bezug auf ihn nicht wirklich schwer fallen dürfte. Hatte er überhaupt wirklich verstanden, oder sich am Ende nur wieder einmal in etwas verrannt und alles, was er gesagt hatte, war in Emilas Augen nur totaler Blödsinn?

Es braucht dich nicht mehr zu interessieren, flüsterte er sich zu. Es ist egal. Es betrifft dich nicht mehr, so oder so. Das war einfach gedacht, aber es zu verinnerlichen, wirklich daran zu glauben, war etwas ganz anderes. Du hast nur die Wahrheit gesagt. Was sie damit tut, ist ihre Entscheidung. Und die muss dich nicht mehr kümmern. Er würde nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Und mit diesem Gedanken kam die Angst, die er bisher erfolgreich verdrängt hatte. Konnte er wirklich alleine Leben? Kam er über die Runden? Was wenn er die Stelle bei Jelerik irgendwann verlor, oder wenn etwas passierte, wenn er verletzt wurde?

Du schaffst das!, fuhr er sich an, um die aufsteigende Panik niederzuringen. Irgendwie schaffst du das. Irgendwie wirst du dich über Wasser halten, egal was kommt. Er mochte schwach sein und eine Heulsuse, die zu schnell aufgab, aber er hatte es auch geschafft nach Niramun zu kommen. Er hatte es geschafft, weil er es sich zum Ziel gesetzt hatte. Überleben war auch ein Ziel. Und er hatte zumindest den Vorteil, dass es nur wenige Leute gab, die irgendein Interesse daran hatten, ihm zu schaden. Er mochte keine Freunde haben. Aber er hatte auch keine wirklichen Feinde.

Tief durchatmend und sich zur Ruhe zwingend verliess er das Quartier und machte sich auf den Weg in Richtung Nordosten. Schnell spürte er, wie lange er nicht mehr barfuss gelaufen war. Die dicken Stiefelsohlen hatten seine Füsse aus der Übung kommen lassen, sie empfindlich gemacht, er spürte jeden Kieselstein als unangenehmen Stich und der rauhe Staub fühlte sich an, als würde er ihm die Haut wegraspeln, ganz davon zu schweigen, dass er saukalt war. Weichei, murmelte die Stimme in seinen Gedanken. Er streckte ihr die Zunge heraus und marschierte weiter.

Er hatte nicht vor, direkt zum Liliths zu gehen, es war noch viel zu früh, er wollte nicht womöglich noch jemanden wecken, wenn er anklopfte, und schon gar kein Aufsehen erregen. Der Plan war einfach etwas früher als sonst dort aufzutauchen, seine Sachen hinauf ins Zimmer zu stellen, sich umzuziehen und mit der Arbeit zu beginnen, als hätte sich nichts geändert. Die Mädchen würden ohnehin merken, dass er jetzt im Haus wohnte, er brauchte es ihnen nicht lautstark zu verkünden.

Sein Weg führte ihn halb zufällig durch den mittleren Le und in den Min. Auf einem Mäuerchen entlang der Speiche setzte er sich eine Weile hin um seine kalten Füsse in der Sonne zu wärmen und beobachtete die vorbeigehenden Leute. Es war ein buntes Gemisch aus allen Klassen, Berufen, Altersstufen, Frauen, Männer, Händler, Handwerker, Tagelöhner. Falrey folgte ihnen mit den Augen, musterte sie, ihre Kleidung, ihre Gesichter, ihre Art zu gehen und sich zu bewegen, Splitter eines Spiegels, der ihre Persönlichkeit zeigte, wenn man vermochte ihn zusammenzusetzen, Fragmente, die einen Blick auf Details erhaschen liessen, manche leicht zu erkennen, andere völlig unsinnig ohne den Kontext, aber niemals das gesamte Bild. Leben marschierten an ihm vorbei, jedes ein eigenes Schicksal, eine eigene Geschichte von Geburt bis Tod, die niederzuschreiben eine ganze Wand von Büchern hätte füllen können.

Niramun II - Mörder und BastardUnde poveștirile trăiesc. Descoperă acum