Kapitel 68 - Heldenmut

115 20 10
                                    



„Weisst du noch, wo wir waren?"

Falrey reckte den Hals, um einen Blick auf die Seiten zu werfen, als Nemi hindurchblickte. „Ziemlich am Ende, denke ich. Kapitel Sechsundzwanzig, hätte ich gesagt."

Nemi überblätterte noch ein Stück und heftete dann ihren Blick auf die letzten Sätze des vorhergehenden Kapitels. „Ah, stimmt", meinte sie schliesslich, bevor sie begann vorzulesen. „Kapitel Sechsundzwanzig: Das schwarze Ei. Wir hatten die Siedlung der Torfstecher noch nicht lange verlassen und durchwanderten noch immer die Nebelmarsche, als unser Begleiter Dumwal sich zu mir gesellte und mir von einer Geschichte erzählte, die sich unweit unseres Standorts zur Zeit seiner Grosseltern zugetragen haben soll. An einem Moorsee abgelegen des Dorfes lebte damals ein alter Mann, der vor vielen Jahren verwitwet war und seither ein selbstgewählt einsames und durchaus wunderliches Dasein fristete..."

Falrey löste den Blick von den Buchstaben, zog die Beine an und liess sich tiefer rutschen. Sie sassen zu zweit in der breiten Fensternische, um das Licht von draussen einzufangen. Nemis Mutter machte Besorgungen und während Eirun vorne am Empfang sass, hatte Nemi das Feuer am brennen zu halten und ab und zu nach den Gästen zu sehen deshalb war sie dazu verknurrt, im Haus zu bleiben. Wobei es draussen ohnehin viel zu heiss gewesen wäre um diese Tageszeit. Im Vergleich zur sengenden Gluthitze in den Gassen herrschten in der Küche trotz des Herdfeuers geradezu angenehme Temperaturen.

Falrey schloss die Augen und konzentrierte sich auf Nemis Stimme. Sie hatte grosse Fortschritte gemacht im Lesen. Als sie damit angefangen hatten, hatte sie bei jedem zweiten Wort gestockt und vieles mühsam Buchstabe um Buchstabe entziffert, bis Falrey fast die Geduld ausgegangen war, nun war ihr Vortrag beinahe flüssig, nur dann und wann stolperte sie noch über längere Begriffe oder eine unerwartete Kommasetzung. Im Grunde hatte sie von Anfang an lesen können, es hatte ihr nur an Übung gefehlt, vermutlich auch mangels interessantem Lesestoff. Falrey fragte sich, ob es ihm irgendwann gelingen würde, die Bücher aufzutreiben, die er als Kind verschlungen hatte – die mit den Erzählungen natürlich. Denn so viel Freude ihm der Halisbat bereitet hatte, war ihm doch bewusst, dass die meisten Leute es nicht als spannende Beschäftigung betrachteten, ein Lexikon auswendig zu lernen. Ihm fiel ein, dass er immer noch keine Ahnung hatte, was eigentlich aus der Fassung geworden war, die Jaz gekauft hatte und deren Seiten lose verstreut im Zimmer gelegen hatten. Irgendwann musste er Jaz danach fragen, wenn er ihn in einem guten Moment erwischte.

„Schläfst du?", unterbrach Nemi ihr Vorlesen.

Er öffnete die Augen und blickte zu ihr auf. „Was? Nein, ich höre zu."

„Gut", grinste sie und las weiter.

Er rutschte noch etwas tiefer, genoss die träge Stille, die von draussen herein sickerte, nur durchbrochen von gelegentlichen Schritten auf der staubigen Strasse, Nemis Nähe und die ruhige Gemütlichkeit, die sie verströmte wie einen Duft. Er hatte nicht sehr gut geschlafen die letzten beiden Nächte über, wobei er im Endeffekt eher lange wach gelegen hatte aus Angst vor Albträumen, als dass er wirklich schlecht geträumt hätte. Die Bilder, die ihn schliesslich fanden, waren eher verwirrend gewesen als erschreckend, unzusammenhängend, mit dem Gefühl, dass er etwas suchte. Oder suchte es ihn?

Zögerlich lehnte er sich gegen Nemis Arm und blickte zu ihr auf, aber sie protestierte nicht, sondern las weiter, worauf er die Augen schloss. Nach einer Weile bewegte sie sich und er wollte sich schon aufrappeln und entschuldigen, aber sie legte schlicht den Arm um ihn und hielt ihn fest bevor sie begann mit den Fingern durch seine Haare zu streichen.

Er musste zugeben, dass er ab dem Punkt nicht mehr wirklich viel von der Geistergeschichte mitbekam, die sie vorlas, weil er schlicht zu beschäftigt war damit, nicht in Tränen auszubrechen. Der Moment war viel zu schön. Die Wärme, die sanften Hände an seinem Kopf. Es erinnerte ihn an früher, aber für einmal war es keine schmerzhafte Erinnerung. Abende am Feuer, als er klein gewesen war und seine Mutter diese allmächtige Person, die das Haus und die Welt überhaupt zusammenhielt, lange bevor er begriff, wie traurig und einsam sie in Wirklichkeit war. Bevor sie krank wurde und dem Fieber so nichts entgegenzusetzen hatte.

Niramun II - Mörder und BastardWhere stories live. Discover now