Twenty-Three. Tunnel Vision

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♦ Benjamin ♦

„Sie lebt ja noch." Carlos betritt mit einem diabolischen Grinsen mein Büro, wie immer mit den Armen hinter dem Rücken verschränkt, allerdings spricht er englisch mit mir, was ungewöhnlich ist. Noch dazu fehlt Diego. Wenn bei dem Gespräch mit meinem neuen Partner aus Mexico etwas schiefgegangen und ihm etwas passiert wäre, wäre das fatal. Er ist sowas wie meine dritte Gehirnhälfte. Umsonst habe ich ihn nicht die letzten sechs Jahre bei mir aufgenommen und ihm alles beigebracht.

Ich erwidere nichts auf die stumme Frage meines Sicherheitschefs und hebe nur auffordernd die Augenbrauen. Mit einem Kopfnicken zeigt er zu dem Bildschirm meines Computers und sein dämliches Grinsen wird so breit, dass ich es ihm am liebsten aus dem Gesicht hämmern würde. Genervt schalte ich auf die Kameraüberwachung um und erblicke Diego zusammen mit Emily im Wohnzimmer. Die Dusche vorhin hat nichts gegen meine Erregung gebracht, aber dieses Bild wirkt wie ein Eimer mit eiskaltem Wasser. Ich fahre mir mit dem Daumen über die Unterlippe, während ich Diego dabei beobachte, wie er sich ihr nähert. Alleine an ihrer Körperhaltung ist deutlich zu erkennen, dass sie Angst hat. Ein kurzer Stich fährt mir durch die Brust, der mir nur allzu deutlich macht, dass ich der Einzige sein möchte, der ihr Angst oder irgendwelche anderen Emotionen entlockt. Mein Blut gerät in Wallung.

„Ist der Deal abgeschlossen?", frage ich zerknirscht, stehe auf und beobachte weiterhin aus dem Augenwinkel heraus das Treiben im Wohnzimmer, um jederzeit einschreiten zu können. „Ja, Boss. Victor hat der Verbindung zugestimmt. Wie vereinbart erhält er zwanzig Prozent dafür, dass er die Lieferungen über die Grenze bringt." Ich nicke zufrieden und sehe zu Carlos, der regungslos auf der Türschwelle verharrt. Ich kenne ihn gut genug um zu wissen, dass ihm noch etwas auf der Zunge liegt. Und er kennt mich gut genug um zu wissen, dass er es lieber für sich behalten sollte. Es geht ganz sicher um Emily.

„Ist noch was?", fahre ich ihn an und er öffnet gerade den Mund, als ein ohrenbetäubender Knall durch das Gebäude schallt. Carlos und ich sehen uns für eine Millisekunde an, bis ich auf dem Bildschirm erkenne, wie Diego und Emily auf dem Boden liegen. Ein zweiter Schuss ertönt. In meiner Brust breitet sich ein beklemmendes Gefühl aus, das mir die Luft zum Atmen nimmt. Nur geistesgegenwärtig drücke ich auf den Knopf für die Waffenkammer, in die Carlos sofort hineinhechtet, sich mit unter anderem einer Bazuka ausstattet, die Taschen mit Munition vollstopft und ich hetze ihm hinterher. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn und auch meine Hände sind feucht, als ich nach ein paar Knarren greife. Mein Herz pumpt wie ein Presslufthammer, was mich zugleich irritiert, wie auch antreibt, mit halsbrecherischen Schritten die Treppe hinunter zu jagen. Ich liebe das Adrenalin, liebe es, wie es alle zur Verfügung stehenden Sinne einschaltet und man einen Tunnelblick entwickelt, der einen nur zu seinem Ziel und dem Auslöschen seines Angreifers führt. Ich liebe den Mechanismus, der mir über Jahre antrainiert wurde, sodass ich in solchen Situationen einen kühlen Kopf bewahren kann, mit einem Grinsen auf den Lippen durch die Gegend ballern und ein paar Wichsern Kugeln in den Körper schießen darf, die sich meinen mit mir anlegen zu müssen.

Doch heute ist mein Kopf nicht kühl. Mein Grinsen ist nicht diabolisch, sondern mein Gesichtsausdruck ist wie eingefroren. Und der sonst so übliche Tunnelblick wird von einem Paar grüner Augen überschattet.

Meine Wut darüber, dass es irgendein Vollidiot geschafft hat, mein Gelände zu überwinden und meine Leute in Gefahr zu bringen, steigt ins Unermessliche. Wie von selbst tragen mich meine Füße über den Gang und ich marschiere wie von Sinnen auf das Wohnzimmer zu.

Gerade als ich die Schwelle übertrete, reißt mich ein starker Griff an der Schulter zurück und ich spüre den Luftzug der Kugel, die an meinem Gesicht vorbeirauscht und direkt hinter mir in die Wand einschlägt. Für einen Moment halte ich die Luft an, blicke zu Carlos, dessen Hand noch immer meine Schulter umgreift. Seine Augenbrauen sind hochgezogen und sein Blick zeigt mir deutlich, dass er von meinem Handeln überrascht ist. Das bin ich auch. Sonst reagiere ich weder über, noch betrete ich einen Raum, bevor er nicht abgesichert ist. Vor allem weil ich mir sicher bin, dass ein Scharfschütze irgendwo in den Bäumen auf der Lauer liegt. Trotzdem will ich in diesen Raum. Will sehen, ob Emily getroffen ist und ob ich jemals wieder ihre Augen glänzen sehen werde.

Afraid of youWhere stories live. Discover now