Kapitel 1 || Teil 1

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„Scheiße, es hat mich schon wieder erwischt!", jammerte das Mädchen und schlug sich mit der flachen Hand gegen die linke Seite ihres dünnen Halses. „Diese Moskitos machen einen ja wahnsinnig! Sollte es in Russland nicht zu kalt für diese Viecher sein?!"

Etwas genervt verkrampfte sich meine Hand, in welcher ich dummerweise noch das unausgefüllte Formular hielt und drehte mich zu der weiblichen Nervensäge um. Tabea, wie sie hieß, lehnte mit einem angeekelten Gesicht gegen einen Baum und versuchte ein paar widerspenstige Erdklumpen aus ihren Nägeln zu pulen, die mit einer stechend grünen Farbe lackiert waren.
Wir standen auf einer weiten Wiese, deren gelbe Gräser an dem großen Wald grenzten und für uns das Spielfeld markierten. Laut unserem Lehrer brauchten wir kein Interesse daran zu haben, was hinter den ersten hohen Tannen verborgen war.

„Das ist ein Wald, natürlich gibt es hier Insekten.", erwiderte ich achselzuckend und marschierte dann mit einigen großen Schritten weiter. „Zur Not frag doch einfach unseren Russen, der wird sich in seiner natürlichen Umgebung schon auskennen."
Kaum waren diese Worte ausgesprochen, wanderte mein Blick automatisch zu der gemeinten Person, mit der ich – abgesehen von Tabea – eine Gruppe hatte bilden müssen.

Wie jedes Mal zeigten meine zusammengetragenen Silben jene Wirkung, die  ich so sehr liebte. Ein plötzliches versteifen des schlanken, fast schon hageren Körpers, das schnelle einatmen und zu guter Letzt; der scheue Augenkontakt. Gefährlich zuckten meine Mundwinkel nach unten, als auch dieser kurze Austausch in einen längeren Moment verharrte, als mir recht war.

„Was glotzt du so, Scheiß Russe?"

Fast schon panisch wandte der Angesprochene sich ab und versuchte seine Aufmerksamkeit wieder dem Aufgabenblatt zuzuwenden, spürte meinen prickelnden Blick aber ganz klar im Nacken. Was sollte man machen?
Er war nunmal mein Opfer, mein persönliches Spielzeug und mein Boxsack, sollte ein schlechter Tag mir die Laune verderben. Jeder wusste es, selbst die Lehrer schienen es schon bemerkt zu haben und dennoch kam keine Hilfe. Das würden sie nicht wagen.

Als wichtigster Sponsor unserer Schule hatte mein Vater einiges mitzureden, da würde man niemals riskieren, dass sein Sohn ein paar schlechte Sachen ausplauderte.
Wie zum Beispiel; die heimliche Affäre zwischen der Geschichtslehrerin Frau Hubert und Frau Kammer? Solche billigen Lesben, wie Letzteres, verdienten es nun in der Gewalt von irgendwelchen Menschenhändlern zu sein. Wer weiß, vielleicht lebte sie ja gerade ihren Traum aus?

Augenverdrehend entfernte ich einen lästigen Grashalm, der sich frech in meinen Schuh gebohrt hatte und nun meinen Fuß zwickte. Danach wanderte mein Blick wieder nach oben und ich seufzte ausgelassen. Sehnsüchtig sah zu den restlichen Gruppierungen, in denen ich mich wahrscheinlich viel besser gefühlt- und bestimmt etwas Spaß gehabt hätte.
Nicht weit entfernt diskutierte mein Kumpel Samuel Berger mit einem hübschen Mädchen und startete sogar mehrere Flirtversuche, die lachend gekontert wurden.
Wäre ich dabei, würde sie mir bereits zu Füßen liegen und mich mit Meister ansprechen.

„Komm schon, unsere Gruppe ist auch nicht schlecht. Ich bin ein wahres Naturtalent in Papier finden!", ertönte die trällernde Stimme von der blonden Tabea hinter mir, die ihre Nägel kurz in meine Schulter bohrte, um mit ihren hohen Schuhen nicht umzufallen. „Nur mit Moskitos und Bäumen komm' ich nicht klar. Da sind mir die aus Plastik- und mit künstlichen Geruch lieber."

„Papier war auch mal ein Baum, weißt du schon?"

„Echt? Dinge gibt's... später kommt dann auch noch, das Eisbären und Pinguine nicht am selben Nordpol leben."

Natürlich hätte ich dieses Mädchen aufklären, ihr ein bisschen mehr Wissen einflößen und zeitgleich andere vor ihrer Dummheit bewahren, können. Doch andererseits war sie selbst schuld, wenn sie so einen minderwertigen Sinn für die Allgemeinbildung hatte. Deswegen nickte ich einfach bloß und entfernte ihre Krallen aus meinen Schultern, bevor ich mich zu unserem dritten Teammitglied drehte.
Markov war der Einzige in dieser Klasse, der die Aufgabe – von den Lehrern ausgelegte Blätter zu finden und deren Information abzuschreiben – ernst nahm und tatsächlich daran arbeitete. Warum das nicht ausnutzen?

„Ey, Russe!", rief ich und schlenderte auf den verwirrten Schwarzhaarigen zu, legte meinen Arm um seine Schulter und begann etwas zuzudrücken. „Dir macht es doch Spaß, ein bisschen zu arbeiten, huh?"

Keine Antwort, weshalb ich den Arm etwas kräftiger zusammenpresste, in dessen Ellbogen der Hals des Russen lag. Auch wenn dieser mehrere Zentimeter größer war und sich ohne Probleme hätte wehren können, wäre das Selbstbewusstsein da gewesen... blieb jeglicher Widerstand aus.

„Es ist verdammt unhöflich, wenn man nicht auf eine Frage antwortet. Haben dir das deine Eltern nicht beigebracht? Ach ja... voll vergessen. Du hast ja keine mehr.", gespielt dramatisch hielt ich mir mit der freien Hand die Brust und beobachtete amüsiert, wie sich Markov's Kiefer anspannte.

Ungeduldig hielt ich ihn meinen zerknitterten Zettel knapp vor das Gesicht und sprach einfach weiter, da mich seine Antwort sowieso nicht interessierte.
„Jedenfalls sind wir ein Team, nicht wahr? Warum übernimmst du nicht auch meinen Zettel und ich lass dich ein bisschen in Ruhe?", schnurrte ich und drückte ihn das Blatt dann einfach in die Hand. „Und mach es gefälligst richtig, sonst weißt du ja, was dir blüht."

Ein letztes Mal klatschte ich den Größeren leicht, dennoch etwas schmerzhaft gegen die Wange und zog dann triumphierend ab. Mit hochgereckten Kinn ging ich an Tabea vorbei, die gerade damit beschäftigt war, ihren verwischten Lippenstift mithilfe eines Handspiegels zu korrigieren.
Auch das Blondinchen ließ ich hinter mich und steuerte direkt auf die Gruppe meines Kumpels zu, die mich praktisch mit offenen Armen empfingen.

„Alter, ich hab schon gewettet, dass du bald hier aufkreuzt.", begrüßte Samuel mich mit einem Handschlag und blickte dann wissend in die Runde. „Was hab ich gesagt? Benny Boy kommt immer! Und da jetzt auch alle Zweifler überzeugt sind... lasst uns abstimmen. Wer ist für eine kurze Expedition in den Wald?"

Augenblicklich wurden meine Ohren spitz und wollte schon die Hand heben, als mir das hübsche Mädchen, und Opfer der vorherigen Flirtversuche Samuels, mit einer Frage zuvorkam.

„Haben wir auch eine andere Wahl?", wollte sie etwas zögerlich wissen und strich sich eine blaugefärbte Haarsträhne aus dem Gesicht. Die restlichen Teammitglieder begannen leicht zu grunzen und schienen über ihre Naivität äußerst entzückt zu sein, mich machte es komischerweise auch an.

Samuel hob den Zeigefinger und machte damit eine verneinende Geste. „Fiona, Herzchen... natürlich hast du keine andere Wahl."

Entführt Where stories live. Discover now