02: Alex

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Als Ferrah erwachte, war es bereits dunkel. Die letzten Sonnenstrahlen flohen eilig, und der Himmel war mittlerweile von tiefen Wolken bedeckt.

Um diese Uhrzeit befand sich niemand auf den Straßen, die Gefahr war zu groß. Man sah nicht mehr, wenn sich jemand in den Gassen versteckte und war dadurch leichtes Ziel.

Eine leichte Brise strich sie im Gesicht wie eine Feder. Sie fröstelte. Wer hatte nur das Fenster aufgelassen? War es heute morgen überhaupt schon geöffnet gewesen? Sie wusste es nicht mehr.

Das Mädchen stand auf, rieb sich die tränenvertrockneten Augen und streckte sich. Dabei entwich ihr ein lautes Gähnen, was sie allerdings herzlich wenig interessierte. Es gab schlimmeres als das.

Als sie sich zum Fenster umdrehte, rieb sie sich verwundert über die Augen. Das Fenster war fest verschlossen. Doch woher war dann der Windhauch gekommen?

Der braune Rahmen des Fensters war an manchen Stellen schon abgebröselt und gab das nackte Holz zum Besten.

Mit einer Hand stütze sie sich an dem kalten Glas ab und starrte in die anbrechende Nacht. Wo seid ihr nur? Was passiert mit euch?

Die Gedanken spielten wieder verrückt, drehten sich immer schneller im Kreis, bildeten einen Strudel aus dem sie nicht mehr entkommen konnte.

Leise seufzend stieß sie sich ab und schlurfte kraftlos ins Wohnzimmer. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass ihr Bruder bald kommen würde.

Tief einatmend stellte sie sich seelisch auf ihren Bruder ein, was angesichts des Verlustes nicht einfach war.

Als ihr Magen trotz der absurden Situation zu knurren anfing, lachte sie hysterisch auf. In der Küche angekommen, blieb sie erstarrt stehen. Die morgendliche Ereignisse drohten sie wieder einzuholen. Doch mit eisernem Willen drängte sie die Gefühle wieder zurück, stopfte sie in einen Raum in ihren Gedanken, vor den sie ein dickes, schweres Schloss hang.

Sie schloss die Augen, sammelte sich einen Moment und kam zur Ruhe, jedoch nur äußerlich. Innerlich kämpften die Gedanken, drängten aus dem abgeschlossenen Raum.

Als Ferrah den Kühlschrank öffnete, schlug ihr eine kalte Wand entgegen. Der Geruch von abgestandener Suppe und vergammeltem Fleisch schmerzte in der Nase und ließ sie rückwärts taumeln. Im selbem Moment als die den Kühlschrank zu knallte, rastete ein Schlüssel in der Wohnungtür ein und öffnete diese mit einem lauten klacken.

Ängstlich presste sie sich an die Küchenablage, in der dämlichen Hoffnung ihr Bruder würde sie dadurch nicht sehen. Sie hoffte, dass nicht wieder getrunken hatte, doch das Schicksal war nicht mit ihr.

Man hörte, wie der Schlüssel achtlos weggeworfen wurde, dann kamen Schritte näher. In der drückenden Stille schienen sie wie Pistolenschüsse zu hallen.

Er wankte langsam in das Wohnzimmer. Natürlich, dachte Ferrah. Natürlich war er betrunken. Wie konnte sie auch anderes hoffen?

Sie drückt sich erneut in die nun willkommenen Schatten der Nacht und versuchte nicht allzu laut zu atmen.

Doch trotz dass sie in Dunkelheit zu schwinden schien, kam ihr Bruder direkt auf ihr Versteck zu. Ihr Herz raste, ihr Puls schnellte in die Höhe, sie atmete schneller.

Der Griff des Kühlschranks drückte sich unangenehm in ihren Rücken, doch Ferrah blieb in der Position, bewegte sich keinen Milimeter.

Plötzlich blieb ihr Bruder stehen und Ferrah atmete erleichtert auf. Doch sie hatte sich zu früh gefreut, denn er wollte nur das Licht einschalten. Durch die unerwartete Helligkeit kniff sie die Augen zusammen und blinzelte schnell.

"Wusste ichs doch. Du dreckige Schlampe ist noch hier.", er wankte gefährlich fing sich aber wieder ehe er zu Boden stürzen konnte.

Für einen kurzen Moment wünschte sich das braunhaarige Mädchen das herbei. Doch dann schüttelte sie von sich selbst enttäuscht den Kopf. Er war immer noch ihr Bruder, egal wie er war.

"ICH HAB DIR GESACHT, DASS DU EINE DRECKIGE SCHLAMPE BIST! WARUM SCHÜTTELST DU DEN KOPF, DU HURE? DU FICKST DOCH MIT JEDEM! ALSO LEUGNE ES NICHT!", brüllte er wütend und gestikulierte wild mit den Händen. Sein Gesicht schwoll an und wurde dunkelrot. Seine Adern in der Stirn traten dick hervor.

Ferrah hob beschwichtigend die Hände und versuchte noch ein Stück zurück, wenn das überhaupt möglich war.

"Alex, du hast getrunken, du weißt nicht, was du siehst!" Ihre Stimme war erstaunlich ruhig und sanft, sie startete einen Versuch beruhigend zu lächeln.

Doch anstatt ihn damit zur Ruhe zu bringen, stachelte es ihn mehr an. Er stand nun direkt vor ihr, kesselte sie ein und ließ ihr keinen Raum um zu entkommen.

"Huh? Ich weiß nicht, was ich sehe? Ich habe zwar getrunken, ja. Aber deswegen hast du billiges Flittchen nicht das Recht, mir vorzuwerfen, nicht sehen zu können!" Er kniff seine rot geränderten Augen zusammen und fixierte sie mit starrem Blick.

Mit seinem nach Tabak und Drogen stinkendem Zeigefinger tippte er unnachgiebig gegen ihre Brust.

"Du hast gar kein recht zu irgendwas! DU bist nichts! EIN NIEMAND!" Seine Faust landete neben ihr an der Tür des kühlschrankes. Er lachte schmierig auf und spuckte sie an.

Angewidert wischte sie sich den Speichel von der Wange und wartete resigniert auf das bekannte Ritual. Er würde sie gleich an den Haaren packen, in sein Zimmer schleifen, ihr die Kleidung zerreißen und dann... Tja, das verändert sich ständig.

Ihre Eltern waren Abends erst spät wieder da und bekamen davon nichts mehr mit.

Doch anscheinend hatte er heute mehr als sonst getrunken oder die Mischung mir Zigaretten und Drogen war ungleich, den er verdrehte die Augen, schwankte stark und fiel letzten Endes mit vollem Gewicht gegen sie. Alex hatte den Mund weit geöffnet und schnarchte selig vor sich hin.

Erleichtert entspannten sie sich und hievte ihren Bruder von sich.

Jeden Tag das gleiche. Jeden Tag kam er betrunken und aggressiv nach Hause. Jeden Tag ließ er seine Wut an ihr aus. Doch er wusste nicht, dass es sie war. Er hielt sie für seine leibliche Mutter, die ihn, als er gerade einmal 5 war, ausgesetzt hatte. Er hatte sie nur gestört, sie konnte nie in Ruhe mit einem ihrer Männer rumspielen. Ständig hatte er es ihr ihrer Meinung versaut, denn sobald die Männer ihn sahen, verließen sie fluchtartig das Haus.

Weil Alex in ihren Augen deswegen ein Störenfried war, setzte sie ihn aus. Schon als kleines Kind musste er ständig mitansehen, wie seine Mutter sich durch die Männerwelt vögelte.

In seinem Rausch konnte er seine Schwester nie erkennen; sie war für ihn seine junge Mutter, die er über alles hasste. Doch auch er war nur ein von blinder Rache geleiteter kleiner Junge. Auch er wollte sich an seiner Mutter rächen, doch er ließ diese Rache in der Benutzung ihres Körpers aus.

Mittlerweile hatte sie sich damit abgefunden, dagegen konnte sie nichts mehr machen, sie war machtlos gegen ihn.

Jetzt, wo sie sich wieder auf das Hier und Jetzt konzentrieren konnte, dröhnte die Stille plötzlich in ihrem Kopf wie ein Presslufthammer.

Die Luft vibrierte, war schon fast zu greifen, so dick fühlte sie sich an. Ferrari hielt es on dem Haus nicht mehr aus, sie musste nach draußen, an die frische Luft. Auch wenn die Gefahr groß war, das nächste Opfer zu sein. Aber mittlerweile war es schon egal, wo man sich aufhielt. Opfer wurde man sowieso.

Also kletterte sie über ihren Bruder, schaltete das Licht aus und schnappte sich an der Tür ihre Jacke und den Schlüssel, der an der Treppe lag, dort wo Alex ihn hingeschmissen hatte.

Dann verließ sie das Haus und verschwand in der Nacht.

[Jonah & Ferrah] Die Natürlichen - Im Kampf gegen das Dunkle Where stories live. Discover now