Ihre Nähe im Kindergarten

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Die Tage wurden allmählich kürzer und das Wetter wurde schlechter. Meistens fing auch meine Stimmung im Herbst allmählich an, immer weiter in den Keller zu fallen, so sehr ich die bunten Blätter der Bäume und die Herbstspaziergänge auch liebte, wie schön ich die dunklen Abende mit heißem Kakao auch fand. Irgendetwas kam in dieser Jahreszeit immer.

Frau Sommer besuchte mich im Kindergarten, dieser Tag war mehr oder weniger der letzte riesige Hochpunkt, nach welchem es allmählich bergab ging. Oder war das lediglich meine Einbildung?
Es war der 22. September. Vor lauter Nervosität, die perfekte Lehrerin im Kindergarten zu treffen und im Anschluss an ihre Hospitation mit ihr und meiner Praxismentorin ein Gespräch zu führen, war ich schon eine Viertelstunde vor meinem eigentlichen Arbeitsbeginn im Kindergarten. Auch meine Mentorin war schon da. Ob sie auch aufgeregt war?
Ich setzte mich zu einem einjährigen Jungen auf den Boden und spielte mit ihm ein Steckspiel. "Das machst du schon ganz toll, mein großer Junge", lobte ich ihn, als er alle Kugeln durch den kleinen Einschnitt in die Konservendose gesteckt hatte. Der Kleine freute sich und lachte. "Nochmal?", fragte ich. Er klatschte in die Hände. Somit half ich ihm, den Deckel von der Dose zu trennen, damit er die Kugeln herausholen konnte. Da betrat meine Mentorin den Raum und sagte: "Ella, Frau Sommer ist schon da."
Mir wurde auf einmal richtig schlecht vor Aufregung und ich begann zu zittern. Eigentlich wollte sie um halb neun kommen und es war noch nicht einmal ganz acht Uhr. Völlig verwirrt saß ich nun neben dem lachenden Kleinstkind und hielt ihm zitternd die Konservendose hin, da erschien die Perfektion auf dem Krippenflur.
Wieder einmal war es für mich, als würde auf einmal alles leuchten, als wäre in der Dunkelheit ein Licht aufgegangen und mein Innerstes begann, neu aufzublühen. Und als ich ihre Stimme hörte, raste mein Herz wie nie zuvor. "Guten Morgen, ich bin die Frau Sommer, Ellas Klassenlehrerin. Sind Sie die Frau Heinrich?" Sie war wirklich da. Sie war da und wollte schauen, wie ich mit den Kindern spielte und hinterher mit mir darüber reden.
Mit meiner Praxismentorin war abgemacht, dass ich den Morgenkreis leiten wollte, weil ich die Einrichtung aus dem FOS-Praktikum schon kannte. Doch nun war sie eine halbe Stunde zu früh.
Da kam sie auch schon in den Gruppenraum, stellte sich direkt vor mich, reichte mir ihre Hand und begrüßte mich: "Guten Morgen, Ella. Ich bin leider etwas zu früh. Wollen Sie mir die Einrichtung noch einmal zeigen?" Ich stand auf, war total durcheinander und unfähig, irgendetwas zu sagen und blickte hilfesuchend zu meiner Praxismentorin. Diese sagte: "Ja, du kannst Frau Sommer ruhig noch eben die Einrichtung zeigen. Ihr hört ja, wenn wir zum Aufräumen klingeln." Ich nickte und begann, voller Nervosität, unbedacht drauf los zu reden. "Äh, ja. Hier ist unser Gruppenraum. Da oben ist die Empore, auf die die Kinder klettern können. Da können die sich austoben und auch zurückziehen."
Während ich so mit Frau Sommer durch jeden Raum ging und ihr alles zeigte, wurde meine Nervosität allmählich kleiner. Ich genoss einfach diese unmittelbare Nähe zu ihr freute mich über jede Frage, die sie mir stellte. Sie sprach mit mir über das pädagogische Konzept und gab mir das Gefühl, eine kompetente Schülerin zu sein. Sie gab mir viele Tipps und freute sich darüber, dass ich mit ihr sprach und ihr alles ausführlich erklärte.
Im Regelbereich wurde sie von der Feuerwehrkraft aufgehalten. Da die beiden sich unterhielten, konnte ich noch etwas mehr zu Ruhe kommen und freute mich über jede private Information, die Frau Sommer von sich preisgab. Wie gerne würde ich sie privat kennen. Sie war so eine interessante und liebe, nette Frau. Ich wollte am liebsten alles über sie erfahren.

Nachdem ich ihr jeden Raum gezeigt hatte, gingen wir zurück in den Krippenbereich. Frau Sommer bedankte sich bei mir und mein Herz schlug immer höher. Ich liebte sie so sehr und diese Nähe zu ihr war wundervoll. Es war so aufregend, dass ich die Schmetterlinge in meinem Bauch fast hören konnte.

Da kam uns auch schon ein zweijähriges Mädchen mit der Triangel entgegen und sagte: "Ella tun auf-äumen." Ich antwortete: "Ja, ich helfe euch jetzt auch beim Aufräumen. Und du darfst heute klingeln, Nina. Das ist ja super!" Die Kleine freute sich: "Ja, ich klingeln, guck!" "Das machst du ganz toll", sagte Frau Sommer. Da schaute die Kleine zwischen mir und Frau Sommer hin und her. Ich erklärte: "Nina, das ist Frau Sommer. Sie ist meine Lehrerin. Wenn ich in der Schule bin, lerne ich ganz viel von ihr. Ich habe euch ja gestern erzählt, dass meine Lehrerin kommt. Weißt du das noch?" Die kleine Nina nickte und sagte erstaunt: "Ella Lehrerin." Ich bestätigte: "Genau. Das ist meine Lehrerin. Und die Lehrerin heißt Frau Sommer." Frau Sommer lächelte mir zu, dass es mir das Herz erwärmte. Warum konnte sie nicht immer bei mir sein?

Nach dem Aufräumen setzten wir uns alle in den Morgenkreis, den ich leiten durfte. Frau Sommer saß schräg rechts vor mir und ich wurde immer wieder von Neuem glücklich, wenn ich in ihre Richtung schaute und feststellte, dass sie tatsächlich noch da war. Es war also kein Traum, keine Einbindung, meine wundervolle Klassenlehrerin saß tatsächlich bei mir im Kindergarten, ich hatte ihr tatsächlich die ganze Einrichtung gezeigt, wobei sie unmittelbar neben mir oder hinter mir lief und wir uns immer wieder zufällig berührten. Nun ja, zufällig mehr oder weniger. Ich nutzte natürlich jede passende Gelegenheit, wie Türrahmen oder schmale Gänge, um 'zufällig' mit ihr in Berührung zu kommen, aber gleichermaßen hatte ich dabei das Gefühl, dass sie ebenso meine Nähe suchte. Sie schreckte nie zurück, wenn ich sie leicht berührte, sondern kam in den meisten Fällen sogar noch näher, sodass nicht nur mein Pullover und ihr Blazer aneinander gerieten, sondern dass wir die Berührungen durch die Kleidung durch auch an unseren Armen spüren konnten und dabei lächelte sie immer so liebevoll und glücklich. Wie gerne hätte ich sie doch einfach umarmt, innig und langanhaltend...

Die Lieder begleitete ich im Morgenkreis mit meiner Ukulele. Vor dem ersten Lied durfte ein Kind die Ukulele 'wecken', also einmal die Saiten anspielen. Diesmal war Nina an der Reihe, weil sie so toll geklingelt hatte. Frau Sommer sang bei jedem Lied leise mit. Ob sie zu Hause mit ihren Kindern viel sang? Wie gerne wäre ich doch einmal eines ihrer Kinder. Dann dürfte ich mit ihr schmusen, ihr ehrlich und aufrichtig sagen, dass ich sie liebe, ohne dabei irgendetwas befürchten zu müssen...

Nach dem Morgenkreis setzten Frau Sommer, meine Mentorin und ich uns ins Personalzimmer, um über mein Praxisverhalten zu reflektieren. Meine Mentorin lobte mich: "Wir kennen Ella schon aus einem vorherigen Praktikum und ich muss sagen, dass sie mittlerweile lauter spricht und sich deutlich mehr zutraut als damals. Das hat mich und auch meine Kollegen sehr gefreut. Also die Therapie scheint etwas zu bringen." Sie lächelte mir zu und ich erwiderte das Lächeln. Als Frau Sommer mich anlächelte und sagte, dass es sie sehr freute, so etwas zu hören, wurde mein Lächeln noch größer und tausende Glückshormone wurden in mir freigesetzt. Ich hatte das Gefühl, jegliche Schwerkraft verloren zu haben und federleicht zu schweben. Es war so schön zu wissen, dass Frau Sommer wirklich etwas daran lag, wie es mir ging, dass sie sich wirklich interessierte und ich hoffte, dass sie zumindest ein klitzekleines bisschen meine Gefühle verstand und für mich nachempfand.
Sie brachte so viele Beispiele aus ihrem privaten Bereich in das Gespräch ein, zum Beispiel auch, dass ihr Sohn ähnlich ruhig war wie ich, dafür aber ein riesiges Einfühlungsvermögen besaß. "Das haben Sie auch, Frau Sommer, das hat er sicherlich von Ihnen", dachte ich und lächelte bis über beide Ohren.
Wie konnte diese Lehrerin nur so süß sein?

Am Ende verabschiedete sie sich von meiner Mentorin und gab ihr die Hand. Auch mir gab sie ihre Hand und streichelte mit der anderen Hand meinen Arm. Dabei sagte sie: "Bis Montag, Ella. Und danke, dass Sie mir den Kindergarten so ausführlich gezeigt und beschrieben haben. Ich freue mich schon darauf, zu Ihrer ersten Prüfung wiederzukommen. Über den Termin sprechen wir in der Schule. Okay?" Ich konnte vor lauter Gefühlen nichts mehr sagen, lächelte sie dafür überglücklich an und nickte mit meinem Kopf. Im nächsten Augenblick hatte sie auch schon ihre Tasche in der Hand, lief zum Ausgang, winkte mir noch einmal zu und ging zu ihrem Auto. Überglücklich stand ich regungslos im Eingangsbereich und schaute ihr verträumt nach. Meine Mentorin kam zu mir und meinte: "Frau Sommer ist ja eine richtig nette Lehrerin." Ich nickte und antwortete ein bisschen zu euphorisch: "Und wie sie das ist!"

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