Gerd

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Als es an der Tür klingelte, setzte ich mich fix neben Paula und tat, als würde ich mir zu meiner Ausarbeitung Notizen machen. Lina stand auf und lief zur Treppe. Wir alle rechneten mit Gerd. Paula war schon wieder wütend: "Der will mir doch nicht erzählen, dass der binnen 20 Minuten ganz hierher gerast ist! Er bringt mit solchen Aktionen auch andere Menschen in Gefahr!" Ich legte beschwichtigend meine Hand auf ihre Schulter und flüsterte: "Pscht, Paula, alles wird gut." Nach kurzer Zeit kam Lina mit einem breiten Grinsen zurück. "Fehlalarm!", lachte sie. Paula atmete tief durch und ich setzte mich zurück auf ihren Schoß, damit ich sie besser streicheln konnte. Sie musste sich unbedingt beruhigen. Wieder ergriff Lina das Wort: "Das war übrigens meine Nachbarin. Die hat gefragt, was hier los ist. Sie hätte mich schreien gehört. Paula, wie hast du das vorhin geschafft?" Wir alle lachten. Paula kam nach und nach wieder zur Ruhe. Besorgt fragte sie: "Hat deine Nachbarin kleine Kinder?" Lina antwortete: "Grundschulkinder, aber die sind schon im Haus. Sie war zufällig im Garten, als du ausgerastet bist. Für gleich habe ich sie vorgewarnt." Wieder lachten wir.

Lina schaltete ihr Radio ein. Es lief gerade "Your song" von Rita Ora. Mein Herz wurde immer schneller und ich sah Paula tief in die Augen. Sie war tatsächlich hier und ich saß auf ihrem Schoß, beide Arme um ihre Schultern gelegt und strich durch ihr Haar. Als ich das Lied zuletzt gehört hatte, war ich auf dem Weg zur Schule. In meinen Gedanken hoffte ich noch, von Frau Sommer beachtet zu werden. Nun saß ich bei Paula auf dem Schoß und war ihr näher als ich es mir je erlaubt hatte, zu erträumen. Paula erwiderte meinen tiefen Blick und da war es wieder, dieses zauberhafte Strahlen in ihren Augen, welches ich so sehr liebte. Ihre Augen schlossen sich, ihre Hände wanderten an meinen Kopf. Sie kam mir immer näher. Ich spürte ihren Atem auf meinen Lippen und kurz bevor diese sich berührten, schloss auch ich meine Augen.
Jedes mal wenn sie mich küsste, entfachte sie ein riesiges Feuerwerk in mir und von Mal zu Mal schien dieses auch noch größer zu werden. Es war einfach überwältigend, es war so viel mehr als es Worte gab, um dieses Gefühl zu beschreiben.
Wenn ich nicht gewusst hätte, dass Lina uns wieder fotografierte, hätte ich fest daran geglaubt, von strahlenden Engelwesen umzingelt gewesen zu sein, die fröhlich um uns tanzten und unsere Liebe feierten.

Ein erneutes Klingeln an Linas Haustür unterbrach uns. Wie von selbst setzte ich mich neben Paula und nahm Linas Kuli zur Hand. Aber bei Verstand war ich nicht. Meine Glückshormone spielten noch immer verrückt und ich funktionierte wie in Trance. Auch Paula saß einfach tiefenentspannt neben mir und genoss die Nachwirkungen unseres Kusses.

"Ist Paula hier?", hörten wir eine Männerstimme fragen. Es war definitiv Gerd. Nun spürte ich wieder diesen stechenden Schmerz in meinem Herzen. Paula schien es zu bemerken und legte ihre Hand auf mein Knie. "Halte durch", flüsterte sie.
Nun hörten wir Lina: "Welche Paula meinen Sie?" Gerd entschuldigte sich: "Sorry, ich meine natürlich Frau Sommer. Meine Ehefrau." Wieder durchfuhr mich ein stechender Schmerz. Ich zuckte zusammen und Paula streichelte liebevoll über mein Bein. Sie sah mich mit einem leichten Lächeln an und ich spürte, dass es ihr gerade sehr schwerfiel, optimistisch zu bleiben. Und doch schaffte sie es, mich mit ihren Blicken aufzumuntern. Sie war wirklich wunderbar.
Lina sagte: "Ja, Frau Sommer sitzt mit meiner Praktikantin in der Küche und bespricht ihre Prüfung." Gerd brummte: "Sie können mir nicht erzählen, dass Sie in Duisburg wohnen, wenn Sie da hinten im Westen an der Grenze im Kindergarten arbeiten! Wissen Sie eigentlich, was für einen Arbeitsweg Sie dann hätten?" Lina blieb ganz locker. "Natürlich kenne ich meinen Arbeitsweg. Wenn ich um 8 Uhr im Kindergarten sein muss, muss ich spätestens um sieben Uhr los, wenn ich Autobahn fahre."
Zum Glück war Lina Fahrlehrerin und konnte daher bestens einschätzen, wie lange sie für welche Strecke brauchte, da sie quasi tagein, tagaus im Auto saß. Gerd hakte noch weiter nach: "Und warum arbeiten Sie nicht in einem naheliegenden Kindergarten?" Lina war sehr clever. "Ich supporte Bilingualismus in der frühen Kindheit", gab sie sehr souverän zurück, "Dort an der Grenze gehen viele niederländische Kinder in den deutschen Kindergarten. Das kommt hier in der Gegend seltener vor." Gerd wusste nun nichts mehr einzuwenden, aber dass er nicht zufrieden war, wussten wir alle ganz genau. Was auch immer er ahnte, hoffentlich war es falsch.
"Was wollen Sie denn?", fragte Lina noch immer sehr freundlich. Gerd antwortete: "Meine Frau will mich sprechen." Lina tat überrascht. "Aha? Dann kommen Sie rein."
Auf der Treppe waren Schritte zu hören und je näher diese Schritte kamen, desto nervöser und angespannter wurde ich. Ich hatte große Angst und ahnte nichts Gutes. Lina betrat die Küche zuerst und hielt Gerd die Tür auf. Er trat ein und sah Paula mit einem bösen Blick an. Vor Angst sprang ich auf und rannte zu Lina, die mich direkt schützend in den Arm nahm. Paula sah Gerd noch böser an und fragte: "Was sollte das gerade?" Ich wusste nicht, worum es ging. Gerd ballte seine Fäuste und schimpfte: "Du weißt ganz genau, dass du um 22 Uhr zu Hause zu sein hast und schau mal auf die Uhr, wie spät es schon ist! Ihr könnt mir allesamt nicht erzählen, dass die Besprechung einer Prüfung einen ganzen Tag lang dauert!" Paula lachte ironisch. "Es ist halb Mitternacht und ich bin mit meinen 40 Jahren alt genug, um selbst entscheiden zu können, wann ich nach Hause komme. Außerdem geht Ellas Prüfung dich gar nichts an!"
Ich drückte mich noch fester an Lina. Meine Angst wurde immer größer, da ich Spannungen noch nie aushalten konnte und nun ging es auch noch um meine geliebte Paula! Lina streichelte mich und hielt mich fest in ihrem Arm. Wäre sie nicht bei mir gewesen, wäre ich ohnmächtig geworden.
Gerd trat Paula näher und wollte ihren Arm greifen, doch Paula wich ihm aus. "Lass das!", fauchte sie. Gerd senkte seine Arme und befahl: "Du kommst jetzt auf der Stelle mit nach Hause!"
Paula aber dachte gar nicht daran. Sie bestimmte: "Ich mache gar nichts bevor wir alles geklärt haben. Hör jetzt endlich damit auf, mich wie deine Sklavin zu behandeln! Weißt du eigentlich, was Liebe ist?" Gerd stand regungslos vor ihr und starrte sie überrascht an. "Natürlich weiß ich, was Liebe ist", gab er zurück. Paula fragte: "Ja? Was ist Liebe denn?" Gerd kratzte sich am Kopf und meinte: "Ich liebe dich."

Mein Herz zersprang in tausend Teile und ich begann, bitterlich zu weinen. Gerd schien davon nichts zu bemerken, Paula sah mich erschrocken an. Lina zog mich in ihr Schlafzimmer und legte mich auf ihr Bett. Sie streichelte über meine Wangen und versprach mir: "Paula weiß, was sie tut. Kleines, es wird alles gut. Paula liebt dich. Sie liebt dich abgöttisch und ich verspreche dir, dass sie das mit Gerd klären wird." Ich wollte gerade nichts lieber, als zu Paula zu rennen und mich an ihr festzuklammern, aber Lina hielt mich fest. "Kleines, du musst hier bleiben. Der Anblick zerstört dich und das möchte ich nicht." Ich wurde wahnsinnig und bettelte: "Aber Lina, ich kann sie nicht alleine lassen!" Lina blieb standhaft und hielt mich fester. "Bitte!", flehte ich und Tränen rasten über meine Wangen. Lina aber meinte: "Das geht jetzt nicht, Ella. Ich weiß, dass es für dich sehr schlimm ist, aber das müssen die beiden untereinander klären." Ich bekam kaum noch Luft und piepste ein leises, schwaches: "Nein..." Dann wurde alles um mich schwarz und jedes Geräusch verstummte. 

Nur wegen IhnenWhere stories live. Discover now