Mittlerweile war der Herbst ins Land gezogen. Der Wind war kühler geworden und flüsterte jedem der gewillt war zuzuhören, schon Geschichten des bald nahenden Winters zu. Auch die immer so grünen Blätter der Weiden, nahe des Flusses, hatten sich bereits braun verfärbt. Zwar war es unter Tags immer noch angenehm, und die goldenen Strahlen der Sonne wärmten die Plains, dennoch würde es sicher nicht mehr lange dauern, bis der erste Frost die Wiesen dieser endlos scheinenden Prärie schmücken würde, zumindest in den frühen Morgenstunden.
Seit mich Kimimila Sapá und ihr Mann bei sich aufgenommen und gesund gepflegt hatten, lief jeder neue Tag gleich ab, zumindest morgens, wenn Matȟó Wikčémna das Thípi verlassen hatte. Mittlerweile war mir diese allmorgendliche Rutine ein lieb gewordenes Ritual geworden, auch wenn ich meinen heißgeliebten Kaffee immer noch schmerzhaft vermisste. Doch alles jammern hätte nichts geholfen, da erstens hier in diesen Breitengraden Kaffee nicht wuchs, und die Lakota zweitens noch nie etwas von diesem wundervollen tiefschwarzen Heißgetränk gehört hatten.
Also räumte ich, wie jeden Morgen die Bettstätten der vergangenen Nacht an ihren üblichen Platz, wenn auch ohne koffeinhaltige Verstärkung. Zwar war in so einem Thipí mehr Platz, als ich mir jemals vorgestellt hatte, aber da er dennoch unter Tags anderwärtig gebraucht wurde, war Ordnung hier im wahrsten Sinne des Wortes das halbe Leben.
Früher hätte ich es mir niemals vorstellen können, wie man es schaffen konnte, auf engstem Raum zusammenzuleben, vor allem, wenn es keinerlei Rückzugsmöglichkeiten gab, an denen es in so einem Thípi auf jeden Fall mangelte. Meine Schwester und ich hatten es schon in den Urlauben kaum geschafft, uns ein Zimmer zu teilen, und hier lebten ganze Familien in einem Zelt, und das ohne jegliche Privatsphäre. Naja zumindest jener Privatsphäre, die man in der zivilisierten Welt als solche verstand.
Hier unter den Lakota war es eben anders, und zwar ganz anders. Auch wenn ich mir mit meinen Gastgebern, die ich allerdings jeden Tag mehr und mehr als meine Pflegeeltern betrachtete, hier in diesem Thípi auf engstem Raum lebte, hatte dennoch jeder von uns seinen privaten Bereich. Respekt war hier das Zauberwort, und wurde mit einer Selbstverständlichkeit gelebt, die ich so nicht kannte. Jedem wurde er entgegengebracht, und das, ohne dass man ihn sich erst verdienen musste.
Das alles war eine ganz neue Erfahrung für mich, und machte das Leben unter diesen Menschen bei weitem angenehmer und einfacher, als es jemals unter den Weißen sein hätte können, und das trotz aller Entbehrungen. Dabei spielte es auch keine Rolle, ob man sich in diesem oder dem 21. Jahrhundert befand.
Tief in meinen Gedanken versunken hatte ich meine morgendlichen Aufgaben erfüllt und gerade, als ich damit fertig geworden war allfälligen Unrat zu entsorgen, drangen die vertrauten Stimmen unserer Nachbarn in mein Bewusstsein, die sich vor dem Thipí unterhielten. Das war zwar an sich nichts ungewöhnliches, allerdings schienen sie an diesem Tag hektischer zu klingen als sonst. Die Menschen dort draußen waren eindeutig aufgeregt.
Neugierig ging ich nach draußen und wurde Zeuge, wie sich eine Neuigkeit hier im Lager, im wahrsten Sinne des Wortes, wie ein Lauffeuer verbreitete. Ich konnte direkt dabei zusehen, wie sie von Person zu Person, von Zelt zu Zelt getragen wurde. Verwirrt stand ich einige Momente da und beobachtete, wie Leben in das Zeltdorf kam, und sogar eine gewisse Hektik auszubrechen schien. Immer noch hatte ich keine Ahnung was passiert sein konnte, doch war es mit Sicherheit nichts schlimmes, denn die Aufregung, von denen die Lakota ergriffen worden waren, glichen eher Vorfreude, als Angst.
Leider waren meine Sprachkenntnisse immer noch nicht so gut, wie ich mir gewünscht hätte und mein Lakota war bei weitem noch nicht fließend. Daher war es für mich immer noch teilweise sehr schwer aus den kehligen Lauten die einzelnen Wörter herauszuhören, die diese Sprache bildeten. Mit mir musste man eben immer noch langsam und deutlich sprechen, wenn man auf eine Antwort hoffte, doch zu meinem Glück verstand ich gerade so viel, dass ich mir den Zusammenhang meist aus dem Kontext zusammenreimen konnte. Allerdings dauerte es heute etwas länger als sonst, bevor ich begriff, was geschehen war, und warum alle mit einem mal so unsagbar aufgeregt schienen.
DU LIEST GERADE
Wie eine Feder im Wind - Die weiße Lakota
Historical FictionIch war eigentlich eine normale Studentin, hatte eine Familie, eine Schwester, Freunde. Ich hatte Pläne, für eine Zukunft in der Gegenwart. Doch das Schicksal hatte anderes für mich im Sinn. Es hat mich ins späte 18. Jahrhundert geführt, unter Mens...