veintisiete: X ist ...

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G R E T A

„Und jetzt?", fragte ich meine Freundin einige Tage später, als Mr Tomlinson noch immer nicht wieder zurück war. „Schenken wir ihm Blumen?"
Der Dank für meine Worte war ein resignierter Blick.
„Wir haben ihm allerdings eine Mathearbeit zu verdanken", gab ich bei meinem einseitigen Gespräch zu bedenken.
„Die würden wir doch eh schreiben", grummelte Nia achselzuckend.
Sie war echt anstrengend, wenn sie auf Mr Tomlinson-Entzug war.
„Für dich ist das vielleicht kein Problem", hielt ich mit erhobenem Zeigefinger dagegen, „aber ich kann kein Mathe."
„Ja", stimmte sie mir empört zu, „und trotzdem bekommst du immer 'ne gute Note! Ich glaube langsam, dass du dich hochschläfst!"
„Bei Mr Tomlinson doch nicht", grinste ich. „Den habe ich schon für dich reserviert!"

Am Donnerstag jedoch bereute ich das irgendwie, denn als ich auf die Arbeit schaute, bemerkte ich siedendheiß, dass ich mir vielleicht doch nicht alles aufgeschrieben hatte, was wir im Unterricht gemacht hatten. Mit meinen Aufzeichnungen kam ich nämlich genau eine Aufgabe weit.

„Mr Tomlinson, das finde ich jetzt aber echt kindisch von Ihnen", meckerte ich also los - das konnte ich wenigstens. „P-q-Formel, das haben wir doch vor zwei Jahren zum letzen Mal gemacht."
„Wiederholung", antwortete er mir knapp. Er klang immer noch etwas heiser. „Und außerdem: Nur, weil wir etwas länger nicht gemacht haben, heißt das nicht, dass es nicht auch Thema in der Arbeit sein kann."
Verzweifelt starrte ich auf die verschiedenen Zahlen und Buchstaben. Wer hatte sich denn überhaupt ausgedacht, Buchstaben in Mathe einzubauen? Wir waren hier ja nicht in Englisch oder Deutsch - leider.
„Aber ich bin doch sonst immer so eine gute Schülerin!", quengelte ich weiter. „Können Sie da nicht mal 'ne Ausnahme machen und mir die Lösung geben? Sie können auch an mir vorbeilaufen und dann ganz zufällig das Lösungsblatt auf meinem Tisch ablegen."
Der Braunhaarige lachte leise.
„Ich habe aber kein Lösungsblatt", gab er entschuldigend zurück. „Bei dieser Klasse kann man sich ja nie sicher sein. Also habe ich ganz einfach gar keins gemacht, sodass es mir auch niemand klauen kann."
„Mr Tomlinson-"
„Ruhe jetzt!", befahl er mir, „Sonst kannst du gleich draußen weiterschreiben."
Draußen konnte ich wenigstens mein Handy benutzen!
Verzweifelt sah ich mich um, unter anderem auch zu Nia, die fleißig am Schreiben war.
Plötzlich fiel mir etwas ein: der Mathesong!
Dabei handelte es sich um ein deutsches YouTube-Video, das wir beide mal entdeckt hatten und in dem ein komischer Typ einen Song über die p-q-Formel gemacht hatte. So hatte Nia ein bisschen Deutsch und ich ein bisschen Mathe gelernt.
„X ist ...?", begann ich also leise zu summen und sah hoffnungsvoll zu der Grauhaarigen hinüber. Sie sah nicht auf.
„X ist ...?!", sang ich also noch einmal und blickte mich danach um, um zu sehen, ob Mr Tomlinson etwas bemerkt hatte. Er würde es zwar wahrscheinlich nicht verstehen, aber reden durften wir ja ohnehin nicht. Dieser war allerdings damit beschäftigt, einen genauen Sitzplan der Klasse anzufertigen, um im Zweifelsfall erkennen zu können, wer bei wem abgeschrieben haben könnte. Ach du heilige Scheiße, war der motiviert!
„... minus p Halbe plus minus die Wurzel aus ...", hörte ich plötzlich meine Freundin zurücknuscheln und ich grinste.
„... p Halbe ...", fuhr ich stockend fort und hielt inne, da mich die blauen Augen des Lehrers fixierten. Scheinheilig lächelte ich, woraufhin er die Augen zusammenkniff und mich scharf musterte.
„... ins Quadrat minus q", vervollständigte Nia hinter mir den Refrain und ich atmete erleichtert aus. Jetzt musste ich das Ganze nur noch zu Papier bringen.
Somit begann ich noch einmal zu singen: „X ist minus p Halbe plus minus die Wurzel aus p Halbe ins Quadrat minus q!"
„Greta!", fauchte Mr Tomlinson und ich zuckte erschrocken zusammen, während Nat mir von der anderen Seite des Raumes aus 'Vielen Dank, Schwesterherz' zurief. Ich war wohl vielleicht doch etwas lauter, als gedacht, gewesen.
„Das Singen hilft mir bei der Konzentration!", quietschte ich panisch und klammerte mich an meiner Arbeit fest. Wenn er sie mir jetzt abnehmen würde, würde ich mich das ganze restliche Jahr über anstrengen müssen, um die schlechte Note auszugleichen und das wollte ich auf keinen Fall!
„Hat ja scheinbar ganz gut geklappt", grinste mein Bruder, wurde jedoch durch Mr Tomlinsons finsteren Blick zum Schweigen gebracht.
Dieser griff sich einen der Tische, schob ihn mit Schwung nach draußen und ließ den Stuhl gleich hinterher fliegen.
„Raus mit dir!", fuhr er mich an und ich zog den Kopf ein.
Wütend stampfte er auf meinen Tisch zu, entriss mir Mäppchen und Arbeit und warf beides auf den Tisch im Flur.
„Na los, raus hier!", schnauzte er mich an und ich schlich kleinlaut hinaus. Da konnte ich wenigstens googeln, wenn ich etwas nicht wusste.
„Du kannst von Glück reden, dass ich dir die Arbeit nicht abnehme, Madame", erklärte er mir, „aber da ich dich als so verpeilt einschätze, dass es dir wirklich passieren könnte, aus Versehen zu singen, gebe ich dir ausnahmsweise noch eine weitere Chance."
Ich nickte einfach nur. Er schien nämlich ziemlich wütend über meinen kleinen Fauxpas zu sein.
Misstrauisch sah er auf mich.
Die Tür zum Flur wurde gerade in diesem Moment geöffnet und Mr Styles trat mit einem Sandwich in der Hand hindurch.
„Harry!", meinte mein Lehrer, „Hast du Unterricht?"
Kauend schüttelte der Lockenschopf den Kopf.
„Perfekt. Dann bleib genau hier, ich möchte nämlich, dass du dafür sorgst, dass Greta ihr Handy nicht benutzt."
„Lass doch einfach die Tür offen", schmatzte Mr Styles und gönnte sich einen weiteren großen Bissen.
„Nein", lehnte der Blauäugige diesen Vorschlag ab, „sonst fängt sie womöglich wieder zu singen an."
Verdutzt sah der Deutschlehrer von mir zu Mr Tomlinson, seufzte aber schließlich, ging kurz in den Klassenraum und kam mit einem Stuhl in der Hand wieder zurück. Diesen platzierte er auf der anderen Seite meines Tisches und setzte sich.
„Danke", sagte mein Mathelehrer nur schnell und verschwand wieder im Klassenzimmer.
Na toll. Jetzt konnte ich mir das Spicken eindeutig abschminken.
Nach einiger Zeit des Schweigens zog Mr Styles eine Augenbraue hoch.
„Du schreibst ja gar nicht", stellte er fest. Gut kombiniert, Sherlock!
„Ich hab' von dem Scheiß ja auch keine Ahnung!"
Er beugte sich zu mir hinüber und studierte das Blatt.
„Ach du Scheiße", murmelte er dann, zog sein Handy hervor und gab etwas ein.
„Bei der dritten Aufgabe musst du 'ne Wurzel ziehen", meinte er schließlich. Perplex starrte ich ihn an. Was ging denn hier ab?
Er zuckte mit den Achseln.
„Du darfst dein Handy ja nicht benutzen ..."
Meine Augen wurden groß.
„Ich ... ich liebe Sie, Mr Styles", brachte ich schließlich heraus und er blickte auf.
„Sie sind der beste Lehrer überhaupt!"
Er schluckte, winkte dann aber ab.
„Erzähl das hier bloß niemandem! Die bringen mich im Lehrerzimmer sonst dafür um!"
Ich nickte, während er fortfuhr, nach den Lösungen zu suchen.
„Was hast du eigentlich gesungen?", fragte er mich irgendwann, nachdem wir zusammen fast die ganze Arbeit gelöst hatten.
„Die p-q-Formel", antwortete ich ihm.„Allerdings auf Deutsch, also hat Mr Tomlinson sie höchstwahrscheinlich nicht verstanden - sonst hätte er mich wohl nicht weiterschreiben lassen."
Der Grünäugige zog erneut eine Augenbraue empor.
„Wie kann man denn die p-q-Formel singen?", wollte er wissen.
„Geben Sie's mal auf YouTube ein", grinste ich zurück.
Keine zwei Minuten später hörte ich das Geklimper des Klavieres und Mr Styles musste lachen.
„Das ist das beste-"
Die Tür zum Klassenraum ging auf, Mr Tomlinson streckte seinen Kopf heraus und ich widmete mich schnell wieder der nun fertigen Mathearbeit.
„Katzenvideo der Welt", räusperte sich der Lockenschopf und pausierte es. „Gibt's ein Problem, Louis?"
Der Angesprochene schüttelte den Kopf.
„Die Zeit ist um."
Mit einem siegessicheren Grinsen auf den Lippen überreichte ich ihm die Arbeit. Eine gute Note würde dieses Mal wohl drin sein.
Und ich war Mr Styles schon wieder etwas schuldig.

They Don't Know About Us || l.t. ; h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt