Roger Teil19

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Callum lief und lief, bis er bei Jems Haus ankam. Er klingelte Sturm, doch keine Reaktion. „Mach schon, mach auf, komm schon, sei da! Fuck!" Er trat gegen die Tür, die davon völlig unbeeindruckt war, dann hockte er sich mit seinem Karton auf die Stufen zum Eingang und versuchte, sich abzuregen. Blut von seiner Schläfe war auf den Deckel getropft. Fuck! Er wollte es mit dem Ärmel abwischen, aber verschmierte es nur. Jetzt langsam wich seine Wut einem noch schlimmeren Gefühl des Elends. Er wollte nicht, dass irgendwer, schon gar nicht Jem, ihn so sah. Er holte ein altes aber unblutiges Sweatshirt aus dem Karton und zog das an. Das andere presste er an die Schläfe. Es tat scheiße weh! Aber es hätte noch schlimmer kommen können... „Was ist denn hier los?", fragte plötzlich eine kräftige Männerstimme und Cal sah auf. Da stand ein massiger Typ mit Bart und in Outdoor Jacke. Buster war bei ihm und kam gleich, um Callum zu begrüßen. Dann war das Roger. Der hatte bemerkt, dass er Callum im ersten Moment einen Schreck eingejagt hatte, aber bei dem Anblick von dem blutenden Jungen, hatte er auch einen bekommen. Was war denn los, wo war Jeremy? Roger trat langsam heran, setzte sich zu Cal und sprach leiser und ruhiger. „Du bist Jeremys Freund, ich kenne dich schon. Callum oder Colm, richtig?"

„Du bist Roger, der Doc. Callum ist richtig." 

„Ja. Was ist passiert? Wo ist Jeremy?"

„Einkaufen. Ich komm nicht rein."

„Hast du dich an der Tür verletzt?" Roger schaute besorgt auf das blutige Shirt.

„Nein. Ich...war dumm."

„Dumm, aha. Davon blutet man nicht gleich so. Komm mit rein, ich versorge das und wenn Jem kommt, geht's dir besser."

Callum nickte dankbar, schnappte sich seinen Karton und ging mit Roger und Buster in den 2. Stock. Buster leckte ihn an der Hand und wedelte mit der Rute. Rogers Wohnung war typisch englisch mit Chesterfield Sofa, Kaminsims voller Krims Krams und gerahmten Familienbildern und Bücheregalen. Aus Gewohnheit lokalisierte Cal sofort eine Fluchtmöglichkeit durch das Fenster in der Küche, nach hinten zum Hof über die Feuerleiter. „Setz dich, stell das hin, ich hole mein Verbandszeug." Roger lächelte, anscheinend ehrlich, dann hängte er seine Jacke weg und ging ins Arbeitszimmer. „Hey Buster, dich hat er nicht gemeint", sagte Callum und schob eilig Buster vom Sofa, bevor er sich setzte. „Lass nur, der hat hier sowieso gemacht, was er wollte", bemerkte Roger und setzte sich Cal gegenüber auf den Couchtisch. „So, jetzt zeig mal her." Roger begann mit professioneller Art, die Kopfwunde oben an der Schläfe zu untersuchen. Callums Haar hatte sich bereits daran verklebt. „Ich werde das säubern. Ein paar Haare werden wir vorsichtig abrasieren müssen. Das ist ne ordentliche Platzwunde. Ich kann sie nähen mit ein paar kleinen Stichen."

„Okay."

„Das wird n bisschen wehtun. Ich würde dir lieber keine Betäubung geben."

„Schon klar."

„Also dann..."

Roger war, zum Glück, beides: Erstens wirklich vorsichtig und zweitens höchst professionell. Das Säubern der Wunde war bald erledigt und die vier Stiche machten Callum kaum was aus. Er zischte ein bisschen durch die zusammengebissenen Zähne, dann war auch das erledigt. „So gut wie neu", erklärte Roger, „pass auf, dass es heute und morgen nicht nass wird."

„Mach ich."

„Gut. Ist sonst alles in Ordnung? Der Entzug war hart. Wenn ich noch etwas tun kann..."

„Hör mal, dir ist schon klar, dass ich dich nicht bezahlen kann, oder? Und da läuft auch sonst nichts." Der junge Mann klang sehr entschlossen und genervt, nur wusste Roger im ersten Moment nicht was er ihm eigentlich sagen wollte. „Von Bezahlung ist gar nicht die Rede. Ich bin Arzt, weil ich gern helfe. Was hattest du vor? Wolltest du mir Eier anbieten oder den Rasen mähen?" Das Letzte war als Scherz gemeint, aber jetzt verriet das Gesicht des Jungen, dass der über sowas nicht scherzte. Und da dämmerte es dem Arzt. „Hey, hey", begann er jetzt in tröstlich beruhigendem Ton, „ist echt alles in Ordnung. Keine Panik, ich versuche nur zu helfen und dafür will ich nichts von dir."

Callum schaute noch immer kritisch. „Ist besser so. Ich mach das nicht mehr, weißt du!?"

Roger nickte. Ihm war schon aufgefallen, dass der Junge nicht gern etwas annahm und etwas Zuspruch gebrauchen könnte. „Ja, weiß ich. Hab ich sofort gewusst", sagte er. „Wo kommst du eigentlich her?", versuchte er einen Themawechsel.

„Nirgendwo."

„Du redest nicht gern, oder?"

Callum schwieg.

„Schon gut", fand Roger, „ich will dir nichts vormachen. Jeremy hat mir gesagt, dass du obdachlos warst. Und bei deiner Drogengeschichte, kann ich mir den Rest denken. Ich hab mal für eine Charity gearbeitet, die sich um Heimatlose kümmert. Darum nimm meinen Rat an, Junge. Du solltest möglichst bald deine Identität klären lassen. Ohne Identität, also ohne Registrierung oder Ausweis, bist du in diesem Land ein Niemand. Du kriegst keine Krankenversicherung, keinen Job, keine Sozialhilfe. Niemanden schert es, ob du lebst oder stirbst. "

„Das schert sowieso keinen." Calum klang bitter.

„Das stimmt nicht. Jeremy hat sich wirklich ins Zeug gelegt für dich. Wahrscheinlich wärst du ohne ihn erstickt oder an einem Schock gestorben."

„Ich... weiß. Jem ist großartig. Aber ich kann nicht so einfach irgendwohin spazieren und sagen, hier bin ich wieder. Gebt mir einen Pass."

„Das wäre aber das Beste. Es muss irgendwas geben, ne Geburtsurkunde, ne Registrierung beim Jugendamt, irgendwas, was beweist, wer du bist. Damit kriegst du einen neuen Ausweis. Du wirst doch nicht von der Polizei gesucht?"

„Nein."

„Du bist volljährig?"

„Ja."

„Du weißt, wer du bist?"

„Ja."

„Dann mach's."

Callum war verwirrt. Wie es schien, lag diesem Roger wirklich was daran, ihm zu helfen und was er sagte klang einleuchtend. Es bedeutete allerdings, dass er sich den Dämonen seiner Vergangenheit stellen müsste. Woher er kam, wo er war, warum er dort nicht mehr war...

„Danke dir für alles", brachte er tatsächlich über die Lippen, „ich seh' s ein."

Roger nickte. „Und noch was. Das da", er deutete auf die Platzwunde, „gilt im Lande ihrer Majestät als Körperverletzung. Das kannst du anzeigen."

Callum schaute jetzt wieder nur. Irgendwie war das alles ganz schön viel auf einmal. Er hatte einen Freund, er war clean, er konnte in einem Haus schlafen, er hatte Sex, der ihm was bedeutete und jetzt noch Hilfe vom netten Nachbarn, nachdem er fast vergewaltigt worden war. Als hätte er was vergessen, leckte Buster an seiner Hand. Cal streichelte ihn. "Ja, du bist auch da..."

„Übrigens, da steht Jeremy und wartet vorm Haus auf dich." Roger hatte aus dem Fenster gesehen. „Ich sag ihm, dass du hier bist." Er öffnete das Fenster. "Hey,  Jeremy..."

Verführt, verirrtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt