Ein Bier

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"Ich freu mich auch dich zu sehen."

Tom saß auf meinem Bett, die langen Beine faul von sich gestreckt und auf den Knien einen Laptop. Abgesehen von dem Schein des Displays war das Zimmer stockdunkel. Ich schaltete das Licht an und sofort kamen Olivias Worte wieder in mir hoch. Tom schlief nicht gerne alleine.

"Wenn du denkst, dass ich dir heute Amy ersetze, hast du dich aber geschnitten."

"Du solltest nicht immer glauben, was die anderen sagen."

Tom lachte entwaffnend und ich war mir nicht sicher, ob ich mir seinen ertappten Gesichtsausdruck nur einbildete. Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr er fort:

"Liv ist beschäftigt mit der Recherche zu unserem neuen Auftrag, Rosa ist heute eindeutig nicht in Redelaune und Pyotr trifft seine Kontakte. Mir ist langweilig."

"Und da machst du es dir in meinem Bett bequem? Schon Mal was von Privatsphäre gehört?"

Tom zuckte grinsend mit den Schultern.

"Nicht wirklich. Aber guck dir das an."

Er drehte den Laptop in meine Richtung. Zögerlich setzte ich mich neben ihn.

"Das Manuskript. Ein Klassikblog hat hochauflösende Scans davon veröffentlicht."

Ich starrte auf die Notenblätter, die genauso gut in einer fremden Sprache beschrieben hätten sein können.

"Und dafür gibt jemand vier Millionen aus?"

"Verrückt, ne? Ich wünschte mir, er hätte ordentlicher geschrieben. So eine Sauklaue ist schwer zu fälschen."

"Fälschen?"

"Klar, das ist mein Job. Ich kann dir alles machen: Urkunden, Pässe und eben auch alte Musikmanuskripte. Wenn ich die richtigen Materialien bekomme. Hey sag mal: was hältst du von einem Bier?"

"Hm?"

Ich war in Gedanken gewesen. Wenn Tom mir einen neuen Pass machte, konnte ich mich vielleicht wirklich absetzen.

"Die Gegend hat nicht viel zu bieten, aber es gibt einen Pub. Was sagst du?"

"Ich weiß nicht, ob das so klug ist."

Ich zeigte auf mein Gesicht. Was wenn mich jemand erkannte?

"Kein Problem. Die Leute, die da rumhängen, schauen sicher keine Nachrichten. Und außerdem ist es dunkel. Sag nicht, dir fällt hier nicht die Decke auf den Kopf."

Ich überlegte kurz. Aber Tom hatte Recht. Der Gedanke daran, noch einen Abend auf meinem Zimmer zu hocken, war nicht verlockend.

"Okay."

"Super. Ich leih dir meinen Hoodie. In dem kannst du dich verstecken."

Tom strahlte mich an, klappte seinen Laptop zu und wenig später liefen wir die verlassenen Straßen runter. Ich hatte mir den Kaputzenpulli tief ins Gesicht gezogen und doch fühlte ich mich seltsam verletzlich.

Im Pub setzten wir uns mit unserem Bier in die hinterste, dunkle Ecke. Viel war sowieso nicht los. Der Barmann begrüßte Tom mit einem knappen Nicken und ein paar der Leute am Tresen schienen ihn auch zu kennen. Keiner schenkte mir besondere Aufmerksamkeit. Der Pub hatte schon mal bessere Tage erlebt und es roch nach verschüttetem Bier und fettigem Essen. An der Wand hing ein Fernseher, auf dem irgendein Fußballspiel lief und die meisten der wenigen Gäste starrten dahin. 

"So. Zwei Wochen mit Pyotr in einem Haus eingesperrt. Wie war's?"

Pyotr hatte mir regelmäßige düstere Blicke zugeworfen und mich spüren lassen, dass ich nicht willkommen war.

"Wir sind uns so gut es geht aus dem Weg gegangen."

"Lass mich raten? Er hat es trotzdem noch geschafft, dich jedes Mal so anzusehen, wenn ihr euch zufällig in der Küche getroffen habt?"

Tom ahmte perfekt Pyotrs säuerlichen Gesichtsausdruck nach.

Ich lachte auf und erschrak mich gleichzeitig, denn das Geräusch war mir fremd geworden. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal gelacht hatte.

Tom grinste und fuhr fort:

"Pyotr ist eigentlich ganz okay. Er hat Probleme, anderen zu vertrauen und sein Beschützerinstinkt gegenüber Rosa ist ziemlich ausgeprägt. Dabei ist Rosa echt die Letzte, die Schutz braucht. Aber die beiden kennen sich schon seit dreizehn Jahren, seit sie elf sind oder so und sie haben 'ne Menge zusammen durchgemacht. Und keine Angst: mich mochte er am Anfang auch nicht."

"Und jetzt mag er dich", fragte ich skeptisch. Ich hatte nicht viel Freundschaft zwischen den beiden gesehen.

"Auf seine Art. Gib ihm ein bisschen Zeit. Andererseits: vielleicht bist du ihn auch schon bald wieder los."

"Warum?"

"Dein Anteil bei unserem neuen Auftrag ist genug, damit du London für immer hinter dir lassen kannst. In vier Wochen könntest du in Buenos Aires sitzen."

Ich zuckte mit den Schultern. Tom sah mich ungläubig an:

"Hast du nie geträumt irgendwo neu anzufangen?"

Wenn man wie ich in einem Minimarkt arbeitete, konnte man sich solche Träume nicht leisten. Statt zu antworten, fragte ich:

"Hast du?"

"Nie."

Im Dämmerlicht des Pubs war es schwer zu sehen, ob er gelogen hatte. Wir schwiegen eine Weile, dann stellte Tom die Frage auf die ich eigentlich schon die ganze Zeit gewartet hatte:

"Das Taschenmesser. Warum bist du uns deswegen hinterher gerannt?"

Ich zögerte, dann sagte ich knapp:

"War ein Geschenk."

"Von Lily?"

Ich starrte ihn entgeistert an. Es war komisch den Namen meiner Schwester aus Toms Mund zu hören, fast als hätte er etwas Verbotenes gesagt. Ich nickte.

"Ihr einziges Geschenk an mich. Ich konnte nicht zulassen, dass du es mir wegnimmst."

Ich sah Tom an, dass er gerne die ganze Story von mir gehört hätte, aber mein Hals war wie zugeschnürt. Abgesehen davon kannte er sie sowieso schon wenn er meine Polizeiakte gelesen hatte. Ich nahm einen großen Schluck meines Biers. Und plötzlich hatte ich, fast gegen meinen Willen, angefangen zu sprechen:

"Lily ist vor drei Jahren gestorben. Da war ich siebzehn und sie zwanzig. Sie hat sich umgebracht wegen einem beschissenen Typen und einer noch beschisseneren Beziehung mit ihm. Als er sie hat sitzen lassen, wollte sie nicht mehr. Ende der Story."

Ich starrte Tom herausfordernd an. Wenn er die Geschichte von mir hören wollte, hatte er das hiermit. Was ich ihm nicht erzählt hatte, war wie sehr Lily sich in der Beziehung verändert hatte. Vorher war sie dieses fröhliche, starke Mädchen gewesen. Meine große Schwester, die mit mir durch London gestreift ist, die mir alles beigebracht hatte, was ich wirklich wissen musste. Und dann fast von einem Tag auf den anderen hatte sie sich verändert. Der Typ war alles, was für sie zählte, sie wurde regelrecht besessen von ihm, aber alles, was sie je für ihn gewesen war, war ein austauschbares Spielzeug. Einmal war sie mit einem blauen Auge nach Hause gekommen. Lily hatte Besseres verdient. Nur leider hatte sie das selbst nie so gesehen. 

Tom sah mich ruhig an:

"Tut mir leid", sagte er schließlich schlicht.

"Mir auch."

"Hat dir Lily auch beigebracht wie man einbricht?"

Ich grinste traurig:

"Hat sie."

Ich musterte Tom, seinen aufmerksamen Blick, die Art wie er mich ansah, als gäbe es im Moment nichts Wichtigeres für ihn, und plötzlich verstand ich, warum er die meisten Nächte nicht alleine schlafen musste.

"Ich werd' dich nicht los, bis du die ganze Geschichte von mir gehört hast, oder?"

Tom zuckte mit den Schultern:

"Wahrscheinlich nicht."

"Okay", ich seufzte und leerte mein Bier, "dann brauch ich noch einen Drink."

Charlie, die Einbrecher und der Diebstahl des JahrhundertsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt