Das Treffen in der Bibliothek

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Etwas Schweres schien mir in den Magen zu fallen. So fühlte ich mich jedenfalls, als ich Rosas geplatzte Lippe, ihr halb zugeschwollenes Auge und ihren hinkenden Gang sah. Ein hässlicher Blutfleck färbte ihren Kragen rot. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Pyotr einen Schritt auf sie zutat, aber ein harter, fast drohender Blick von ihr ließ ihn stillstehen.

Ich wusste nicht genau, was ich erwartet hatte, aber es war auf jeden Fall nicht die kalte Wut, die von Rosa in Wellen auszugehen schien und die das ganze Zimmer ausfüllte. Noch bevor ich meine Gedanken ordnen konnte oder sich auch nur ein zusammenhängender Satz in meinem Kopf geformt hatte, war Warburton hinter Rosa in den Raum getreten.

Er trug den gleichen, teuren Anzug wie gestern Abend, sein Haar war noch genauso tadellos und sein Blick, mit dem er uns schnell scannte, genauso klug und durchdringend. Doch wenn ich den Warburton hier mit dem Mann verglich, der gestern lässig an einem Flügel gelehnt die High Society unterhalten hatte, war es als würde ein vollkommen anderer Mensch vor mir stehen.

Verschwunden war der elegante Gastgeber, der Liebling der versammelten Lords und Ladies. Stattdessen hatte ein Mann den Raum betreten, dessen jede Geste, jeder Gesichtsausdruck eine berechnende Kälte ausstrahlte.

Er warf einen Blick auf die beiden Männer an der Tür, die sich wie auf Kommando von der Wand lösten und auf uns zukamen. In der nächsten Sekunde hatten sie begonnen, uns zu durchsuchen. Ich schauderte, als ich die forschen Hände des Narbenmannes auf mir spürte.

"Normalerweise musst du mir einen Drink kaufen, bevor du mir so nah kommen darfst", Tom wich ärgerlich einen Schritt zurück, doch der Mann zog ihn schroff zu sich und durchsuchte ihn stur weiter, bevor er zu Olivia überging.

"Und was ist das?"

Er zog ein kleines Gerät aus der Innentasche ihrer Jacke. Olivia wurde blass, ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Sie schwieg.

"Sieht wie ein Recorder aus", entgegnete der andere Mann. Warburton hob die Augenbraue:

"Ich würde es schätzen, Miss Craine, wenn Sie keine Abhörgeräte in mein Haus bringen."

Warburton hatte nicht die Stimme erhoben, aber die fast beiläufige Art mit der er Olivias Nachnamen erwähnte, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Was wusste er noch von uns? Ohne eine Antwort abzuwarten, zeigte er auf das Sofa und die Sessel, die drum herum standen. Er selbst nahm in einem großen Ohrensessel Platz. Zögerlich setzen wir uns, nur Rosa blieb stur neben dem Sofa stehen, die Arme schützend vor sich verschränkt.

Warburton warf einen flüchtigen Blick auf sie, dann begann er zu sprechen:

"Meine Zeit ist kostbar. Ich halte mich also kurz. Meine Party gestern kam zu einem abrupten Ende, als ihr es euch in den Kopf gesetzt habt, mein Manuskript zu stehlen. Wer hat euch beauftragt?"

Wir schwiegen. Ich schielte vorsichtig zu Rosa und war mir sicher, dass Warburton ihr die Frage auch schon gestellt hatte, ohne eine Antwort zu bekommen.

"Wir arbeiten nicht für andere", entgegnete Olivia schließlich.

Warburton hob skeptisch die Augenbrauen:

"Ist das so?"

Es war deutlich, dass er uns nicht glaubte, es ihn anscheinend aber auch nicht sonderlich interessierte. In dem gleichen, fast gleichgültigen Tonfall fuhr er fort:

"Folgendes wird jetzt passieren: ihr werdet einen Auftrag von mir übernehmen. Wenn ihr erfolgreich seid, werde ich vielleicht in Betracht ziehen eure Existenz zu vergessen."

Für eine verrückte Sekunde war ich mir sicher, dass ich mich verhört hatte. Ich warf einen schnellen Blick auf die anderen, die ebenso verwirrt aussahen wie ich. Nur Rosas Gesicht war zu einer Maske erstarrt.

"Was soll das heißen?", entgegnete Tom ungläubig.

Warburton bedachte ihn mit einem kalten Blick:

"Es gibt etwas, das ich benötige und ich habe kein Interesse daran, meine eigenen Leute zu schicken. Einen Diebstahl von euch kann man nicht zu mir zurück verfolgen."

"Und was für einen Auftrag?", fragte Olivia.

"Er will, dass wir etwas für ihn stehlen", antwortete Rosa tonlos.

Warburton nickte:

"Miss Hall", er zeigte auf Rosa, "kennt mein Angebot schon. Sie war so vorschnell es abzulehnen, aber sie hat sich entschieden, euch doch herzurufen, als ich ihr die Konsequenzen ihrer Ablehnung aufzeigt habe."

"Und die wären?"

Ich war mir sicher, dass Tom nur aus Reflex gefragt hatte. Wir alle kannten die Konsequenzen.

Als Antwort erschien ein kaltes Lächeln auf Warburtons Gesicht. Mein Herz schlug inzwischen so schnell, dass ich es in meinen Fingerkuppen spürte.

"Was sollen wir stehlen?"

Ich hörte keine Angst in Olivias Stimme und fragte mich, ob sie sich nach der fast beiläufigen Morddrohung Warburtons wirklich so ruhig fühlte oder einfach eine bessere Schauspielerin als ich war.

"Die Frage ist nicht was, sondern von wem", warf Rosa ein, den Blick immer noch stur und voller Wut auf Warburton gerichtet. Dieser nickte.

"Ich will, dass ihr etwas für mich von Cleo Edevane steht."

Der Name sagte mir überhaupt nichts, aber damit war ich offensichtlich allein. Sämtliche Farbe war aus Olivias Gesicht gewichen. Pyotr warf Rosa einen erschrockenen Blick zu und Tom war mit einem freudlosen Lachen aufgesprungen:

"Das ist ein schlechter Witz, oder? Wir sind vielleicht verrückt, aber nicht verrückt genug, um uns mit Cleo Edevane anzulegen. Wenn Sie denken, dass wir das auch nur eine Sekunde in Betracht ziehen, sind Sie wahnsinnig."

"Tom!"

Es lag eine Warnung in Rosas Stimme und Olivia zog ihn schnell zurück aufs Sofa, doch Warburton schien nicht verärgert zu sein. Im Gegenteil: sein abgeklärtes Lächeln wurde einen Hauch breiter:

"Die Entscheidung liegt bei euch. Es ist allerdings nur fair, wenn ich euch mitteile, dass eine Ablehnung dazu führt, dass keiner von euch mehr dieses Zimmer verlässt."

Bildete ich es mir ein oder hatte Warburton amüsiert geklungen, als er die Drohung aussprach? Inzwischen fiel es mir schwer zu atmen. Ich hatte das Gefühl in einen Film geraten zu sein, dessen Anfang ich verpasst hatte. Ich gehörte hier nicht hin.

"Ich weiß, dass es bei der Hälfte von euch", Warburtons Blick ruhte abwechselnd auf mir, auf Pyotr und schließlich auf Rosa, "keinen interessiert, ob ihr heute nach Hause kommt. Niemand wird euch vermissen. Und was den Rest angeht", hier sah er auf Olivia und Tom, "wäre es doch schade, wenn abgesehen von euch auch noch eure Liebsten ein frühzeitiges Ende finden."

Ich schaute Rosa an und wusste, warum sie uns in die Villa gebracht hatte. Für eine Sekunde begegneten sich unsere Blicke, dann sah sie wieder auf Warburton, die gleiche lauernde Wut in den Augen.

"Also? Sagt euch mein Angebot zu?"

Was hatten wir für eine Wahl? Rosa löste den Blick von Warburton und sah uns forschend an. Wir mussten nichts sagen, um uns vollkommen zu verstehen.

"Gut", antwortete sie schließlich.

"Was sollen wir stehlen?", fragte Pyotr.

"Nicht nur was", entgegnete Warburton mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck, "sondern auch wen."

Charlie, die Einbrecher und der Diebstahl des JahrhundertsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt