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Als ich am nächsten Morgen den Schulhof betrat, sah alles aus wie immer. Einige Schülerinnen und Schüler standen draußen in Grüppchen auf dem Schulhof, andere waren irgendwo im Inneren des Schulgebäudes. Und es wäre auch alles wie immer gewesen, wäre da nicht die winzige und gar nicht allumfassende Tatsache gewesen, dass ich Nathen heute wiedersehen würde und ich mich absolut nicht bereit dafür fühlte. Allein der Gedanke an die bevorstehende Deutschstunde machte mich absolut wahnsinnig. Wenigstens würde Leon mir beistehen.

Nachdem ich mich mehrmals suchend um mich selbst gedreht hatte, was nebenbei nur dazu geführt hatte, dass mich einige Menschen nun schräg ansahen, war ich mir sicher, dass meine Freunde nirgendwo hier draußen zu sehen waren. Ebenso wenig wie eine gewisse andere Person, wo ein einziger Gedanke bereits ausreichte, um mein Herz nervös pochen zu lassen.

Tief atmete ich durch und zwang mich ruhiger zu werden, ehe ich meinen Weg in Richtung des Inneren des Gebäudes fortsetzte. Unterwege winkte ich ein paar der anderen Jungs und Mädchen, die ich aus ein paar gemeinsamen Kursen kannte.

Leon und Vanessa warteten am Vertretungsplan auf mich und Vanessa umarmte mich fest.

„Du bist wieder da, zum Glü- Momentchen mal." Ehe ich mich versah, hatte sie mich schnell eine Armlänge Abstand zwischen uns gebracht und sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. „Bist du noch ansteckend?"

Ich verdrehte die Augen.

„Mir geht's blendend. Hatte mich am Wochenende wahrscheinlich einfach verkühlt und mich erkältet. Meine Nase ist auch fast wieder frei, also entspann dich."

„Und außerdem war ich auch gestern bei Zoé und hab sie umarmt. Und vor fünf Minuten hast du mich umarmt, was genaugenommen bedeutet, dass du die Bakterien eh schon hättest. Also hier mal keine Panik auf der Titanik." Leon hob beschwichtigend die Hände, um seinen Worten mehr Nachdruck zu vermitteln.

Vanessa nickte beruhigt, ehe sie sich herzhaft darüber ausließ, wie sich ihr kleiner Bruder gestern in ihrem Schrank versteckt hatte, als ein Kindergartenfreund zu Besuch gewesen war und die beiden kleinen Jungs Verstecken gespielt hatten. Ich sagte das wahrscheinlich nur, weil ich keine eigenen Geschwister hatte, die mich hätten nerven können. Doch ich mochte kleine Kinder. Sie waren irgendwie knuffig.

Als Leon und ich uns nach dem Klingeln auf den Weg zum Deutschraum machten, versuchte ich mich auf meinen Atem zu konzentrieren, um an nichts anderes denken zu müssen. Beispielsweise was in Nathens Kopf vorgehen würde, wenn er mich sah. Oder ob es ihn überhaupt interessierte. Mal wieder fühlte ich mich unendlich dumm.

Leon hatte mein angespanntes Schweigen sofort bemerkt und mir beruhigend die Schulter gedrückt. Er war wirklich lieb.

Doch wie sich herausstellte, hätte ich mir die ganze Nervosität ersparen können. Nathen hatte es nicht einmal für notwendig gehalten aufzusehen, als ich Leon und ich den Raum betreten hatten. Alles was er an seinem Tisch zwei Reihen hinter meinem getan hatte, war die unglaublich konzentrationsfordernde Aktivität gewesen, irgendetwas auf den ohnehin schon beschriebenen Tisch zu kritzeln.

Dabei war ich mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass er meinen Blick gespürt hatte. Trotzdem hatte er mich ignoriert. Die Enttäuschung, dass er mich offenbar einfach so abgeschrieben hatte, schmerzte mehr als eine Ohrfeige. Ich verstand es einfach nicht.

Leon und ich hatten uns schließlich auf unsere angestammten Plätze ganz vorne fallen lassen und mehr oder minder freiwillig am Unterricht teilgenommen, wo Herr Kraus uns eröffnet hatte, dass wir in der kommenden Woche mit Faust I anfangen würden. Juhu.

Ice RainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt