Kapitel 2 - Seifenblasen und Knäckebrot

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Fünf Jahre.

So lange hatte es gedauert, bis auch der letzte hier begriffen hatte, dass ich nicht mehr Antonia genannt werden wollte.

Sogar mein Vater hatte sich nach einer Weile daran gewöhnt. Einzig meine Mutter weigerte sich standhaft und behauptete, dass der neue Name keine Abkürzung für Antonia sei, weil man ihn auf dem I betonte. Aber damit konnte ich leben. Für jeden anderen war ich Nia und damit auch gleichzeitig jemand, der sich vorstellen konnte, ohne vor Scham im Boden zu versinken.

Meistens jedenfalls.

Ich definierte mich nicht über mein Stottern. Aber es war verdammt schwierig, es zu ignorieren.

Die meisten Menschen hatten nicht viel Ahnung davon, wie es war, mit einem solchen Sprachfehler durchs Leben zu gehen. Gewöhnlich dachten sie, dass man beim Stottern Silben wiederholte, wie ein Maschinengewehr und entsprechend länger brauchte, bis man den Satz zu Ende gebracht hatte.

Aber das war nur eine beschränkte Wahrnehmung dessen, was tatsächlich vor sich ging. Es gab viele verschiedene Formen des Stotterns und jeder Betroffene hatte seine völlig eigenen Ausprägungen, die sich im Laufe des Lebens auch verändern konnten.

Bei mir waren es vor allem einzelne Buchstaben, die mich stottern liessen, wie bei einem alten Motor, der nur noch spuckte, wenn man den Schlüssel drehte.

G-g-g-g-g

Manchmal war es ein K, das mich zum Stocken brachte, manchmal ein P. Besonders schlimm waren G, D und B und an sehr schlechten Tagen auch das T. Aber wirklich peinlich wurde es dann, wenn ein Wort einfach nicht herauswollte.

Blockaden, nannte man das.

Normalerweise traten diese Blockaden mitten im Redefluss auf.

Früher war ich in eine Therapiegruppe gegangen, in der wir gemeinsam geübt hatten. Einer der Anwesenden hatte einmal gesagt, dass es sich anfühlte, wie ein Vakuum im Mund. Für mich war es eher so, als würde ich an einem Kirschstein saugen und ihn gleichzeitig ausspucken wollen.

Ein Ding der Unmöglichkeit.

Meistens waren es N- oder M-Laute, die bei mir zu solchen Steinen wurden. Es dauerte nicht lange, bis es bestimmte Wörter gab, die ich völlig aus meinem Wortschatz strich, weil ich wusste, dass sie mich zum Stocken bringen würden. Zum Glück änderte sich das immer einmal wieder, aber vor ein paar Jahren, musste ich plötzlich mit Schrecken feststellen, dass sich mein eigener Name in die Reihe dieser kleinen Verräter gestellt hatte.

An-

An-

Und im Kopf schrie es Antonia.

Das war mir so peinlich, dass ich überhaupt nirgendwo mehr hinwollte, aus Angst, dass mir jemand die Hand reichte und erwartete, dass ich mich vorstellte.

Seither vermied ich den Namen.

Menschen guckten ziemlich schnell sehr seltsam, wenn man herumdruckste und würgte, anstatt zu sagen, wie man hiess. Ich hasste es, wenn ich Worte gewaltsam aus dem Mund pressen musste und noch viel mehr hasste ich gut gemeinte Ratschläge, wie es klappen könnte.

„Sag es einfach ganz langsam, Schätzchen."

„Überleg dir vorher, was du sagen willst."

„Hol doch erstmal Luft, Liebes."

Wenn es nur daran liegt, dachte ich jeweils, dann hör doch einfach auf damit, mir die Luft wegzuatmen. Ungefähr 3 Minuten.

Aber als ich das zu der ollen Tante in der Bäckerei sagen wollte, kam ich leider nicht weiter als bis zu a-a-a-auf. Dann verlor ich die Geduld und verliess den Laden, ohne etwas zu kaufen.

Hinter der Bühne (AT)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt