Kapitel 4 - Dem Ruin entgegen

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Ich sass da wie betäubt.

Frau Lautner teilte die Manuskripte aus und meine Mitschüler begannen sofort eifrig darin zu blättern und sich zu melden, um ihre Fragen zu stellen. Für mich hörte sich das alles an, wie das Rauschen zwischen zwei Radiosendern, während man den richtigen Kanal suchte und nur ab und zu einen klaren Satz vernahm.

Als hätte jemand meine Antenne geknickt.

Nur langsam drangen die einzelnen Stimmen wieder zu mir durch.

„Bei diesem Stück hier, handelt es sich um eine Tragödie", hörte ich Frau Lautner vorne sagen.

In der Tat, dachte ich.

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und betrachtete den gehefteten Stapel an bedruckten Blättern auf meinem Pult mit ausdrucksloser Miene.

Ganz vorne stand in dicken Lettern "Hendricks Stimme - Eine totgeschwiegene Liebesgeschichte" und darunter ein Autor, von dem ich noch nie etwas gehört hatte.

„Wir werden uns einem eher unbekannten Stück widmen, dessen Hauptfigur Hendrick, den Tod seiner Jugendliebe Cecilia betrauert und von Gewissenbissen gequält wird, als er der schönen Julianna begegnet. Durch den Verlust–"

Ich hörte gar nicht mehr zu.

Durch das geöffnete Fenster drangen die sommerlichen Geräusche der nahe gelegenen Strasse an mein Ohr und die Stimmen der Schüler, die bereits aus hatten und noch auf dem Schulhof herumlungerten. Ich wünschte mir, ich könnte einer von ihnen sein. In einer anderen Klasse, in einer anderen Stadt... in einem anderen Leben.Noch vor einer Woche hatte ich angenommen, mein Schuljahr würde langweilig werden und nun sah ich diese Annahme so gründlich wiederlegt, dass ich am liebsten davongelaufen wäre.

Es wäre so einfach gewesen, aufzustehen und zu gehen. Einfach zur Tür hinaus zu marschieren und dann den Gang hinunter, vorbei an all den Klassenzimmern, in denen noch Unterricht herrschte und dann die Treppen hinunter, bis man mich nicht mehr zurückrufen konnte.

Aber das ging nicht.

„Die Aufführung findet bereits in ein paar Monaten statt", erklang es von vorne. „Geplant ist, dass wir den ersten Teil unserer Doppelstunde dem regulären Unterrichtsstoff widmen und die zweite Hälfte auf das Bühnenstück verwenden."

Ein Murmeln ging bei dieser Information durch den Raum.

Wahrscheinlich hatten die meisten hier angenommen, der Freitagnachmittag würde für den Rest des Schuljahres aus Herumgehampel in Strumpfhosen und einem Balkon aus Pappe bestehen, von dem jemand „O Romeo, Romeo" brüllte, bevor er mit der gesamten Konstruktion einstürzte.

Mir war von Anfang an klar gewesen, dass wir den Lehrplan nicht vernachlässigen konnten. Schliesslich gab es nach wie vor Lernziele, die erreicht werden wollten und Klausuren, für die wir büffeln mussten. Aber auch ich war überrascht, als Frau Lautner nun bestätigte, dass wir bereits im Dezember auf die Bühne treten würden.

Ich dachte einen Moment darüber nach, wie das gehen sollte und was das für mich bedeuten mochte. Aber dann kam ich zum Schluss, dass ich froh sein musste.

Je seltener wir proben konnten, desto weniger Gelegenheiten würden entstehen, in denen ich mich blamierte.

Meine Mitschüler mochten von Mal zu Mal besser werden, wenn sie übten, aber bei mir sah das anders aus. Zehn Jahre Sprechtherapie hatten aus mir keine Rhetorin gemacht und 4 Monate Schauspiel, konnten daran auch nichts ändern.

Der Beweis dafür, hing bei meiner Mutter im Büro, am Klemmbrett.

Schwarz auf Weiss.

„Mir ist bewusst, dass unsere Zeit sehr knapp bemessen ist", hörte ich Frau Lautner sagen. „Dazu kommt leider noch, dass wir nicht jeden Freitag darauf verwenden könnten, zu üben. Die Theater AG hat sich bereiterklärt uns mit den Kostümen auszuhelfen, aber um das Bühnenbild müssen wir uns selbst kümmern, was etliche Stunden unserer Zeit in Anspruch nehmen wird."

Hinter der Bühne (AT)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt