Kapitel 3 - Rot und Grau

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Ich lag auf meinem Bett und starrte durch das Dachfenster in den Himmel.

Keine einzige Wolke war zu sehen und obwohl wir uns hier im Stadtzentrum befanden, wo sich ein alter Wohnblock an den nächsten reihte, war vom Lärm der Strasse nichts zu hören. Ein Schwarm Vögel zog weit über mir vorbei und ich schob die Kopfhörer von meinen Ohren, um den kleinen, schwarzen Punkten zu folgen, bis sie aus meinem Blickfeld verschwanden.

Für einen Moment stellte ich mir vor, ich könnte auch einfach davonfliegen und der harte Klumpen, der seit heute Morgen so schwer in meinem Herzen lag, wurde etwas leichter.

Mein Zimmer war nicht besonders gross und das vertäfelte Schrägdach und die ebenso verkleideten Wände wirkten altbacken, aber an manchen Tagen fühlte ich mich dadurch, wie Cinderella in ihrer Mansarde.

Gerade so, als wäre alles was ich mir wünschte, nur ein Bibbidi-Babbidi-Boo entfernt.

Aber im echten Leben sah das anders aus.

Ich seufzte und setzte die Kopfhörer wieder auf.

Ich mochte Musik, die nicht auf Worte angewiesen war.

Musik, die sich durch ihren reinen Klang, ihre Höhen und Tiefen und den schieren Rhythmus ausdrückte und dabei Gefühle aus dem Unterbewusstsein herausholte, wo man sie vergraben hatte. Es war, als würden sich diese Gefühle recken und strecken, aufstehen und dir ins Gesicht schauen, um dir zu zeigen, wer sie waren, bevor sie ausbrachen und durch deinen Verstand tobten.

So lange, bis man sie wieder wegsperrte.

Ich legte einen Arm über meine Augen und stöhnte.

Was hatte ich mir heute Morgen nur dabei gedacht, Nia zu erzählen, wie es mir ging? Ich kannte den Typen nicht einmal und dann offenbarte ich ihm mitten auf dem Flur mein Innerstes, nur um dann eiskalt stehen gelassen zu werden.

Im Nachhinein kam ich mir so dämlich vor.

Nia hatte das richtige Schulzimmer auch ohne mich gefunden und als ich mich schliesslich von meinem Schock erholt hatte und als eine der letzten in Frau Lorenz' Stunde erschien, da sass er bereits dort, an seinem neuen Platz.

In der hintersten Reihe.

Neben Natalie.

So viel zum Thema, „ich sitze gerne vorne".

Als ich mich zwischen den Bänken hindurchquetschte und zu meinem Tisch ging, schaute er für einen Moment auf, aber ich wendete mich nur von ihm ab. Lieber hätte ich mir die Zunge herausgeschnitten, als ihm zu zeigen, dass ich gekränkt war und zu meinem Glück kam in diesem Moment auch schon Frau Lorenz durch die Tür.

Die Geschichtslehrerin war bekannt dafür, mit einem Stapel Strafarbeiten im Unterricht zu erscheinen und einen Bogen davon an jeden Schüler auszuteilen, der ihr auf die Nerven ging. Gewöhnlich bemerkte man ihre schwindende Geduld daran, dass sie plötzlich vom aktuellen Stoff abwich und zu ihrem Lieblingsthema überging; der letzten Hinrichtung in Deutschland.

Ich war mir sicher, dass sie ihre Schüler am liebsten gar nicht erst zum Nachsitzen geschickt hätte, sondern direkt zur Guillotine.

Die Frau hatte eine Meise, aber ich respektierte sie trotzdem, weil in ihrem Unterricht stets konzentrierte Stille herrschte. Und so fügte ich mich in mein Schicksal und verdrängte die Wut in meinem Bauch, bis sie nur noch ein dumpfes Gefühl in meiner Magengrube war.

Die Stimme in meinem Kopf hingegen regte sich noch lange auf. Sie ging um ihren Sessel herum, fuchtelte mit den Händen und schrie: „Ab mit seinem Kopf!"

Jetzt, als ich den Blick durch mein Zimmer schweifen liess, wurde es in meinem Kopf langsam ruhiger und die Gedanken zum heutigen Tag, ordneten sich zu eine Kette an Vorfällen, die so klar vor mir lag, dass ich mit dem Finger auf die Glieder hätte zeigen können, die ich herausreissen wollte.

Hinter der Bühne (AT)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt