Kapitel 18

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Am nächsten Abend lag ich lange wach in meinem Bett. Sofie schlief bereits, hin und wieder hörte ich als Beweis ihr leises Schnarchen. Und wie ich so dalag, alleine in einer dunklen Kammer auf einem harten Bett, da fühlte ich wieder das Heimweh in mir aufkommen. Um Trost zu bekommen, umschloss ich das gewärmte Metall meines Medaillons und schloss die Augen. Hier, in dieser dunklen Kammer, roch es immer nach Holz. Und etwas muffigem. Als hätte man seit Jahren nicht richtig gelüftet. Aber wie will das bei unserem kleinen Fenster auch möglich sein?
Ein kleiner Seufzer entwich mir, als ich an Zuhause dachte. Mein richtiges Zuhause. In meinem Zimmer hatte es stets nach frischen Blumen gerochen. Mama hatte mir fast jeden Morgen einen neuen Strauß hineingestellt. In ihrem und Papas Zimmer hatte es immer nach frischer Minze gerochen, so wie Papas Rasierwasser.

Langsam öffnete ich die Augen wieder um mein Medaillon zu betrachten. Mit einem kleinen Klick öffnete ich es und betrachtete wieder das Bild. Dieses Mal konnte ich von Mamas Lächeln absehen und sah stattdessen den Mann an ihrer Seite an. Er war etwas größer als Mama, nur ein paar Zentimeter, und wesentlich dicker. Zumindest sein Bauch. Die kleinen Fältchen um die Augen sollten vom Alter zeugen, doch die schokoladenbraunen Augen sprühten nur so vor Leben. Auch die grauen Haare ließen ihn nicht alt wirken.  Sein Blick zeigte den Stolz, den er für seine Familie empfand.
Diesmal schaffte ich es, beim Schließen des Schmuckstücks nicht zu weinen. Dafür begleitete mich das Ziehen in meiner Brust bis in den Schlaf, und hörte auch dort nicht auf, mich zu plagen.

Glücklicherweise träumte ich nichts. Seit einem halben Jahr ging das so. Entweder ich träumte schlecht oder nichts. Das nichts war mir wesentlich lieber. Mit halbwegs guter Laune (so gut man am frühen Morgen eben gelaunt sein konnte) stand ich darum am nächsten Tag sogar noch vor Sofie auf. Nachdem ich mich gewaschen, angezogen und mir die Haare gekämmt hatte, steckte ich diese mit ein paar Haarnadeln hoch. Dabei betrachtete ich das Gesicht, das mir aus dem Handspiegel, den ich hielt, entgegenblickte. Große, dunkelbraune Augen sahen mich erwartungsvoll an. Viele sagen, ich sähe aus wie meine Mutter, doch die braunen Augen habe ich von meinem Vater. Zum Glück waren unter diesen Augen heute mal keine Augenringe zu erkennen. Erleichtert legte ich den Spiegel darum wieder in meine Tasche und schob diese unter mein Bett, bevor ich das roséfarbene Kleid an mir glattstrich und eine Schürze umband.

Heute ging es in die Waschküche. Um pünktlich zu sein ging ich zu der noch schlafenden Sofie und rüttelte sanft an ihrem Arm. Als Antwort kam ein Brummen. Grinsend rüttelte ich etwas fester an ihr. Diesmal kam ein etwas lauteres Brummen, aber sonst nichts. Also griff ich zu einer anderen Maßnahme. Leise ging ich zu meinem Bett rüber und nahm das Kissen, das darauf lag, weg. Ziel anvisieren, zielen, Schuss! Das Kissen traf das Gesicht meiner Mitbewohnerin. Erschrocken riss sie die Augen auf und setzte sich kerzengerade im Bett auf. „Wie?! Was?!" Zuerst sah sie das Kissen neben ihr liegen, und dann mich. Mit mürrischer Miene meinte sie: „Also ehrlich Tia, musst du mich so unsanft wecken?! Kannst du nicht einfach sagen, dass ich aufstehen soll?" Augenrollend sah ich sie an, verkniff mir dabei jedoch ein Grinsen.

Sehr witzig.

Schulterzuckend erwiderte sie: „Ich mein ja nur, die Methode wäre sehr viel sanfter!"

Und absolut ineffektiv. Ich müsste schon ein Elefantenbrüllen loslassen, um dich wecken zu können.

Diesmal flog ein Kissen in meine Richtung. Dann sahen wie uns an und lachten. Also sie lachte. Ich tat es auch, nur eben lautlos. Gemeinsam machten wir uns fertig und gingen zur Arbeit.

Ein paar Stunden später sollte ich die Bettwäsche von zwei Gästezimmern wechseln. Also machte ich mich mit einem großen Wäschekorb auf den Weg. Im sechsten Stockwerk des Schlosses erreichte ich schließlich die zwei Zimmer. Zum Glück lagen sie direkt nebeneinander, sodass ich keinen Umweg machen musste. Während ich die alten, gebrauchten Laken gegen neue austauschte kam ich nicht umhin, mir die Zimmer anzusehen. Es war nur ein Gästezimmer, aber trotzdem mindestens sechs mal so groß wie Sofies und meine Kammer. Und sehr edel eingerichtet. Der Boden glänzte edel in einem Mahagoni-Ton, die Wände waren pastellgrün und mit einem Rankenmuster durchzogen. In das Bettgestell waren feine Verzierungen gearbeitet, und die schwere Samtüberdecke gab den letzten Feinschliff. Das Zimmer war wunderschön und prachtvoll, aber nicht protzig. Allmählich verstand ich, dass das ganze Schloss in diesem Stil eingerichtet war. Und ich mochte ihn sehr.

Nachdem ich auch das zweite Zimmer mit neuer Bettwäsche versorgt hatte und wieder auf den Flur trat, hörte ich Rufe aus den anderen Gängen kommen. Sie gehörten der Palastwache. „Haltet ihn auf!" „Seine Majestät ist hier lang gerannt!" „Nein, diese Richtung!" „Folgt ihm!" Mein Verstand brauchte nicht lange um zu verstehen, was vor sich ging. Der Beweis kam wenige Sekunden danach um die Ecke gerannt, genau auf mich zu. Genauer gesagt: An mir vorbei. Prinz Kilian schien mich in seiner Eile nicht bemerkt zu haben, sondern sich auf den Weg konzentriert zu haben.
Nun bremste er jedoch abrupt ab, als er feststellen musste, dass dieser Gang in einer Sackgasse endete. Hilfesuchend sah er sich um - und entdeckte mich.

„Tia" Schnell ging er auf mich zu. Er trug ein beigefarbenes Leinenhemd und eine dunkelgrüne Hose. Die Haare waren durch das Rennen zerzaust und ein paar Strähnen hingen ihm wirr ins Gesicht. Man konnte ihn in diesem Aufzug mit einem Bauernjungen verwechseln. Eine ungewohnte Freude kam in mir hoch, als ich hörte, dass er sich meinen Namen gemerkt hatte. „Du musst mir helfen. Ich muss mich verstecken!" Wie auf Kommando hörte ich, wie die Wachen näher kamen. Sie konnten jeden Moment diesen Gang betreten. Einen Moment lang sah ich irritiert in sein flehendes Gesicht. „Bitte..." Ich hatte zwar keine Ahnung, was er vorhatte, aber seine bittende Miene ließ mich handeln statt zu denken. Entschlossen kippte ich den vollen Wäschekorb aus. Nun war der Prinz derjenige, der mich irritiert ansah. „Was soll das werden?" Ohne Umschweife deutete ich erst auf ihn, dann in den Korb. Ungläubig sah er mich an. „Ich soll in den -" Er wurde von lauten Stimmen unterbrochen. Ungeduldig griff ich nach seinem Arm und zog ihn näher zum Korb. Das sollte so viel heißen wie: Jetzt ist keine Zeit zum Fragen stellen, beeil dich!

Er schien es zu begreifen und stieg eilig in den Korb. Sobald das geschehen war, hatte er meinen Plan wohl begriffen, denn er machte sich augenblicklich so klein wie es ging. Ich dagegen packte schnell einige der zerwühlten Laken, die neben mir auf dem Boden lagen, und schmiss sie über den Prinzen auf den Korb. Keine Sekunde zu spät, denn genau in diesem Moment erschienen ein paar Wachen am Anfang des Ganges und kamen auf uns - ich meine mich - zugestürmt. Ich nahm unterdessen so ruhig es ging ein weiteres Laken, das noch auf dem Boden lag, und tat als würde ich es zusammenfalten. Die Wachen hielten bei mir an. „Hey du! Was machst du da?" In dem Versuch nicht nervös zu wirken legte ich langsam das Laken weg und griff zu Notizbuch und Stift.

Mir ist der Wäschekorb runtergefallen. Darum muss ich die Wäsche jetzt neu zusammenlegen.

Die Wache, die zu mir gesprochen hatte, beäugte mich misstrauisch. Sein Blick machte mich nervös, doch ich versuchte, weiterhin unschuldig auszusehen. Dann kam die Wache plötzlich ein paar Schritte näher, bis sie den Korb erreicht hatte. Eine Hand griff nach unten. Mein Herz blieb fast stehen, als der Mann sich über den Wäschekorb beugte... und das Laken vom Boden aufhob. Mit einem freundlichen Ausdruck reichte er es mir und trat wieder ein paar Schritte zurück. „Nun gut" sagte er mit einem freundlicheren Ton. „Wir wollen dich nicht von der Arbeit abhalten. Männer: Durchsucht noch die zwei Zimmer, dann gehen wir in den nächsten Stock!" Die Wachen gehorchten und stürmten in die beiden Gemächer. Schließlich stand ich wieder alleine im Gang und hörte, wie die Männer die Zimmer absuchten. Schnell entfernte ich die anderen Laken vom Wäschekorb, bis ein Büschel brauner Haare zum Vorschein kam. Rehbraune Augen blickten zu mir auf. Ich hob den Zeigefinger an die Lippen und deutete in die Richtung, aus der die Wachen gekommen waren. Dorthin sollte er fliehen. Er nickte, stieg schnell aus dem Korb und eilte in die Richtung. Kurz bevor er hinter der nächsten Ecke verschwand, stoppte er nochmal, sah mich an und grinste. Ich grinste zurück. Dann war er weg.

Im selben Moment kamen die Wachen wieder auf den Gang. Der Mann, mit dem ich gesprochen hatte, sah irritiert auf den Wäschekorb, dessen kompletter Inhalt nun daneben auf dem Boden lag. Ich zuckte mit den Schultern und setzte ein unschuldiges Lächeln auf.

Sound of SilenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt