Kapitel 60

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Gespannt trat ich vor den Spiegel. Eine junge, schöne Frau sah mir entgegen. Das roséfarbende Kleid hatte kurze Ärmel und verlief bis zur Taille eng anliegend, bevor es in einen ausladenden Rock überging. Auf der Brust waren mit etwas dunklerem Garn feine Ornamente gestickt, in denen vereinzelt zarte Rosenquartzsteine eingearbeitet worden waren. Um den Hals trug ich mein geliebtes Medaillon. Sofie hatte meine Haare bis auf ein paar herabfallende Strähnen hochgesteckt. Auf meinem Kopf thronte ein zartes, silbernes Diadem. Zufriedenheit machte sich in mir breit. Ich sah aus wie Prinzessin Tiara Elena Rosalis, doch ich fühlte mich immernoch wie Tia. So war es immer schon gewesen, und auch wenn ich viele Dinge am Prinzessinsein nicht vermisst hatte in den letzten Monaten, so fühlte sich dieser Anblick doch an wie Nachhausekommen. Als sich die Tür hinter mir öffnete, wandte ich mich vom Spiegel ab. Als ich mich umdrehte, kam Erik auf mich zugelaufen. Augenverdrehend meinte ich: „Zwanzig Jahre, und du hast immernoch nicht gelernt Anzuklopfen?" Schulterzuckend meinte er: „Jetzt ist es zu spät, um es zu lernen." Als er mich erreichte, nahm ich seine Hand. Ich spürte, wie sie leicht zitterte. Es kostete ihn Kraft, normal zu gehen, darum half ich ihm rasch sich auf einen Stuhl zu setzen. Lässig meinte er: „Schon lästig, wenn allein das Gehen einen ins Schwitzen bringt..." Besorgt sah ich ihn an. Ich wusste, seine Hilflosigkeit machte ihm mehr zu schaffen als er zugab. Gleichzeitig war ich mir absolut sicher, dass er sich davon nicht unterkriegen lassen würde. So jemand war er einfach nicht. Er würde kämpfen, das wusste ich. Stück für Stück würde er sich seine Fähigkeiten zurückholen und schließlich erfolgreich sein Ziel erreichen. Egal wie lange es dauern würde.

„Du siehst übrigens wirklich schön aus. Und das sage ich nicht gerne, immerhin werden dich in dem Aufzug tausende Männer begehren." Beruhigend lächelte ich meinen Bruder an und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Dafür habe ich ja meinen Begleiter. Kilian wird sie schon abschrecken." Er brummte als Antwort, schien jedoch nicht ernsthaft missgelaunt zu sein. Als ich ihm von Kilian und mir erzählt hatte, war er nicht einmal wirklich überrascht gewesen. Er hatte mir erzählt, dass Kilian ihn in Lavinia persönlich aufgesucht hatte, und sie sich dadurch bereits kennenlernen konnten. Er meinte, er hätte schon dort gemerkt, dass ich dem dyandrischen Prinzen sehr wichtig war. Zwar würde er sich noch an diese Situation gewöhnen müssen, doch er schien Kilian zu akzeptieren und respektieren, was mich wirklich glücklich machte. Vor allem, weil es so einfacher werden würde, Vater einzuweihen. Ihm hatte ich noch nicht von mir und Kilian erzählt, und auch wenn ich mir sicher war, dass er sich für uns freuen würde, war es beruhigend meinen Bruder als Unterstützung zu haben. Als es im Ankleidezimmer rumpelte, sah ich Erik mit einem langen Blick an. Er hob geschlagen die Hände. „Bin ja schon weg! Ich sag euren Begleitern, dass sie vormarschieren können." Dankbar grinste ich und half ihm zur Tür zu gelangen. Nachdem er hinausgetreten war, rief ich in Richtung Ankleidezimmer: „Bist du fertig?" „Jahaaa!" kam es gedämpft zurück, bevor Sofie schließlich fertig angezogen aus dem Zimmer trat. Beinahe schüchtern machte sie ein paar unsichere Schritte auf mich zu. Als sie mich sah, fing sie an zu strahlen. „Du siehst wunderschön aus!" Dann legte sie schuldbewusst eine Hand auf den Mund. „A-aber dein Kleid ist ja viel schlichter als meins!" Lächelnd betrachtete ich meine beste Freundin.

Ihr Kleid hatte ebenfalls kurze Ärmel und saß bis zur Taille eng, verlief dann jedoch in einen Wasserfallrock. Die unzähligen Lagen aus Stoff fielen weich und schimmerten in wechselnden Farben aus Meergrün und Türkis. Die vielen Edelsteine, die das Korsett bedeckten, schimmerten in denselben Farben und brachten ihre wunderschönen blauen Augen zur Geltung. Das Schönste an ihr waren jedoch ihre Haare, die sie das allererste Mal offen trug. Bis auf einzelne vordere zurückgesteckte Strähnen fielen ihr die wunderschönen roten Locken weich bis zur Hüfte und stachen durch die Meertöne als eigentliches Juwel hervor. „Du siehst einfach atemberaubend schön aus!" sprach ich meine Gedanken aus, statt auf ihren Protest zu antworten. Augenblicklich färbten sich ihre Wangen. „Danke. Das Kleid ist einfach großartig." Dann jedoch wollte sie wieder Einwände erheben. „Aber das kann ich nicht anbehalten! Ich falle viel mehr auf als du, und das ist nicht Zweck des Tages! Es geht doch um dich, um deine Familie!" Abwinkend ging ich auf sie zu und zupfte ein paar Falten an ihrem Kleid zurecht. „Weißt du, wie viele solcher Kleider ich schon tragen musste? Nein danke. Außerdem: Was habe ich dir gesagt? Jeder soll heute sehen, was für einen Schatz sich der König ausgesucht hat!" Meine beste Freundin sah mich zuerst sprachlos, dann mit Tränen in den Augen an. Ehe ich mich versah, lagen wir uns in den Armen. „Danke. Tausend Mal danke..." flüsterte sie, doch ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich danke dir!" Ein Klopfen unterbrach uns. Ehe Sofie reagieren konnte, zog ich mich zurück und hinderte sie mit ausgestrecktem Arm am Laufen. „Warte, du bleibst hier stehen, ich mach das." Zwinkernd wandte ich mich ab und lief zur Tür.

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