Kapitel 31

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„Tia? Wir brauchen noch zwei Körbe voll Salatköpfe. Kannst du die mit Sofie holen?" Tim sah mich bittend an, während er einen Stapel Geschirr durch die Küche balancierte. Eifrig nickte ich und zog meine Mitbewohnerin sachte am Arm aus der Küche, die noch schnell zwei leere Körbe für uns mitnahm. Sie schien überrascht über meinen Eifer. „Was ist denn los mit dir, Tia? Der Salat läuft uns doch nicht davon!" Aber meine Gedanken hoffentlich. Ich schrieb diesen Satz nicht auf, sondern behielt ihn für mich. Es war mir ein wenig peinlich, aber in den letzten Tagen hatte ich mich bemüht, so viel Arbeit wie möglich auf mich zu nehmen, um meinen Gedanken nicht nachgehen zu müssen. Denn wenn ich es tat, dachte ich immer nur an eines: Kilian. Zwar versuchte ich mir vorzulügen, dass das an meiner Scham lag, die ich empfand, weil er mich schlafend in mein Zimmer getragen hatte, doch tief in meinem Inneren war mir bewusst, dass es nicht nur deshalb war. Und vor dieser Erkenntnis hatte ich Angst. Angst, dass es wahr war, und Angst, dass es Einbildung war. Da ich selbst deshalb nicht ganz klar im Kopf war, ging ich meinen Gedanken darum lieber aus dem Weg.

Da ich keine Antwort gab, liefen wir schweigend in den Garten und knieten uns dort vor eines der Salatfelder. Durch den dünnen Stoff meines beigen Leinenkleides spürten meine Knie die kühle Erde. Das würde wohl ein paar Flecken hinterlassen. Während wir begannen, die Salatköpfe zu ernten, musste ich plötzlich an früher denken.

„Mamaaa!" Weinend lief ich durch die Tür und sah meine Mutter lesend auf einem Divan sitzen. Überrascht sah sie von ihrem Buch auf. „Tia, mein Schatz, was ist denn los?" Tränenüberströmt stolperte mein sechsjähriges Ich zu ihr und deutete an mir runter. „Mein Kleid! Erik hat mein Kleid dreckig gemacht!" Ich hatte es zum Geburtstag bekommen, und es war mein Lieblingskleid gewesen. Natürlich in rosa, mit feinen Stickereien am Saum und Puffärmeln. Es war gleichzeitig auch das schönste, das ich besaß. In dem Moment kam Erik hereingestolpert und verzog trotzig das Gesicht. „Sie hat angefangen!" „Du hast mich in die Schlammpfütze geschubst!" rief ich sauer, und er erwiderte ebenso sauer: „Nachdem du mein Holzschwert zerbrochen hast!" „Das war keine Absicht! Aber du hast das mit Absicht gemacht!" „Es reicht!" rief meine Mutter dazwischen. Tadelnd sah sie uns an. „Ihr sollt doch nicht streiten. Vor allem nicht um solche kleinen Dinge. Kleider und Schwerter sind ersetzbar." fuhr sie sanfter fort, kniete sich zu uns und fasste uns beide an die Schulter. „Aber ihr nicht. Ihr seid viel wichtiger als alles Materielle auf der Welt, okay? Merkt euch das. Und genauso unersetzbar seid ihr für euch. Erik, Tia hat das mit deinem Schwert bestimmt nicht absichtlich getan, und Tia: Wir geben trotzdem auf die Dinge von anderen Acht, ja?" Wir nickten. Dann sahen wir uns stumm an. Zwar sprachen wir es nicht aus, doch es lagen Entschuldigungen in der Luft. Dann fing Erik an zu grinsen: „Weißt du, wenn wir in den Fluss draußen springen wird dein Kleid vielleicht wieder sauber." „Und dort gibt es vielleiht einen Stock, der so aussieht wie ein Schwert!" stimmte ich zu, bevor wir begeistert hinausstürmten.

Eine kleine Träne löste sich aus meinem Auge. Schnell sah ich runter, damit es niemand bemerkte. Gleichzeitig musste ich lächeln. Wir waren damals so unbeschwert und hatten so unnötige Sorgen. Und Mutter hatte, wie so oft, recht behalten: Materielle Dinge waren nichts im Vergleich zu den Personen, die einem wichtig waren. Hastig wischte ich mir mit der Hand über das Gesicht, um Tränenreste wegzuwischen. Als wir fertig mit ernten waren, stand Sofie auf. „So, ich denke das reicht. Komm, wir -" Als sie mich ansah begann sie zu lachen. Irritiert sah ich sie an. Sie deutete auf eine Stelle an ihrer Wange. Ich tastete an die Stelle in meinem Gesicht und begutachtete anschließend meine Finger. Dann verstand ich ihren Grund zu lachen. Ich hatte mir mit meinen dreckigen Händen übers Gesicht gewischt und war nun mit Erde im Gesicht gezeichnet. Automatisch grinste ich mit. Zusammen liefen wir zurück. Sofies gute Laune schien aus irgendeinem Grund nicht anzuhalten. Auf dem Weg schien sie in ihre eigenen Gedanken abzudriften und setzte eine nachdenkliche Miene auf. Mit fragender Miene stieß ich sie an.

Sie winkte ab. „Ach, mir geht es gut. Es ist nur... In vier Tagen kommen doch meine Geschwister zu Besuch." Nun sah ich sie noch verwirrter an. Sie verstand die Fragezeichen über meinem Kopf. „Nein, ich freu mich natürlich darüber! Nur... wo soll ich sie unterbringen? Egal wie lange ich grübele, ich finde keine Lösung dafür wie acht Menschen in unserem kleinen Zimmer Platz finden sollen." Es machte mich traurig, dass die sonst so fröhliche Sofie so ernst war. Ich wollte ihr tröstend über die Schulter streichen, als Zeichen, dass wir sicher eine Lösung finden würden, doch der Korb in meinen Händen hinderte mich daran. So schenkte ich ihr nur ein aufmunterndes Lächeln. Schreiben war mit einem Korb in beiden Händen nämlich auch ungünstig. Allerdings musste ich das gar nicht, denn...
„Verzeihung die Damen!" unterbrach uns jemand von hinten. Als wir uns umdrehten, kam der König auf uns zu. Überrascht schnappte Sofie nach Luft, und auch ich war sehr irritiert. König Elias kam in einem smaragdgrünen Anzug, der in perfektem Kontrast zu seinen dunkelblauen Augen stand, auf uns zu und lächelte warm. Die hellen Haare standen ihm heute ein wenig unordentlich aus dem Gesicht, was ihn, zugegeben, noch attraktiver als sonst machte.

Eilig knicksten wir vor dem Herrscher, doch er schien gar nicht darauf zu achten. „Ich wollte euch nicht in Verlegenheit bringen und versichere, dass ich nicht gelauscht habe, doch mir ist zufällig zu Ohren gekommen, was du eben gesagt hast." Er wandte sich an Sofie, deren Wangen sich rosa färbten. „Wenn ich fragen darf: warum musst du so viele Menschen in einem Raum unterbringen?" Sie antwortete erst, als ich ihr leicht mit dem Fuß gegen das Bein trat. „Oh, Majestät... Naja es ist so: Meine Freundin hier und ich teilen uns ein kleines Zimmer, und meine Geschwister, die mich in ein paar Tagen besuchen, haben kein Geld um sich woanders einzuquartieren." Der König schien zu begreifen. „Darum müssen sie zu euch." Sofie nickte. Einige Sekunden lang war es still, dann schien König Elias etwas einzufallen. „Nun, wenn es ihnen nichts ausmacht, können sie auch einfach ein Gästezimmer des Schlosses benutzen." Er sagte es als sei es eine Selbstverständlichkeit. Sofie dagegen keuchte „Oh Majestät, ich weiß nicht ob ... das ist zu viel der Ehre... Irgendwie geht es bestimmt auch so -" „Bitte denk darüber nach" lächelte der König freundlich.

„Es wäre mir eine Ehre, wenn ich euch helfen kann. Wenn ich genauer darüber nachdenke, geht es bestimmt vielen Angestellten so. Das muss ich mal in einer Konferenz ansprechen. Mein Bruder hat mich erst kürzlich darauf hingewiesen, in welch ungünstigen Verhältnissen unsere Angestellten hier leben müssen. Ich hatte ja keine Ahnung! Darum werden wir das definitiv nochmal ansprechen." Er schien am Ende mehr mit sich selbst gesprochen zu haben. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder uns zu. Oder besser: Sofie. „Ich bitte um Entschuldigung, ich bin ein wenig abgedriftet. Ich glaube, ich kenne deinen Namen noch nicht. Würdest du ihn mir verraten?" Mit einem unterdrückten Grinsen bemerkte ich, dass der König während des ganzen Gesprächs nur Augen für meine Mitbewohnerin hatte, und das sicher nicht weil ich zu unauffällig oder er zu unfreundlich war. Da war etwas in seinen Augen, wenn er mit ihr sprach, das konnte ich deutlich sehen. Eine Art Glanz, eine ganz besondere Aufmerksamkeit. Mit einem leisen Lächeln trat ich ein paar Schritte zurück, knickste und entfernte mich von den Beiden. Sie schienen es nicht zu bemerken.

Kopfschüttelnd lief ich weiter über den Hof zu einer Tür, die fast direkt in die Küche führte. Kurz bevor ich sie erreichen konnte, hielt mich jedoch etwas zurück. Oder besser: Jemand. Ich sah wie Kilian mitten auf dem Hof stand und zwei ältere Herren in guter Kleidung auf ihn einredeten. Er schien gelangweilt, wie ein kleines Kind das von den Eltern eine Vortrag bekam, und ließ seinen Blick über den Hof wandern. Dabei blieb er an mir hängen. Es kam mir wie ein Dejavu vor. Diesmal stiegen mir jedoch alle möglichen Gedanken, die ich versucht hatte zu verdrängen, wieder in den Kopf. Ich stellte mir vor, wie er mich schlafend auf dem Boden liegen sah, wie er mich vorsichtig hochhob und wie sich wohl mein Kopf an seiner Brust anfühlte. Genau in diesem Moment lächelte der Prinz von Dyandra mich an. Und ich konnte nicht anders, als zurückzulächeln.

Sound of SilenceWhere stories live. Discover now