Daydream

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„Hope, Hope! Schau mal das Meer!", rief Yoongi plötzlich aus, öffnete das Fenster und streckte den Kopf so weit es ging hinaus. Wir hatten inzwischen fast unser Ziel erreicht und mussten nur noch eine halbe Stunde fahren, bis wir an dem Zeltplatz ankommen würden.

„Können wir hier ganz kurz halten? Ich will ein Foto machen?", fragte der 15-Jährige immer noch ganz aufgeregt wie ein kleines Kind, dass seinen ersten Tag im Kindergarten hatte. „Klar. Warte kurz." Ich fuhr an den Straßenrand und sobald der alte Pick-up zum Stehen gekommen war, riss Yoongi die Tür des Wagens auf und sprang förmlich heraus. Ich stieg auch aus, allerdings etwas gemächlicher als er und stellte mich neben den schmächtigen Jungen, der den Moment gerade mit seiner Handy-Kamera verewigte.

„Es ist so schön und hör mal, du hörst schon das Rauschen." Er steckte sein Handy wieder in seine Hosentasche und sah mich glücklich an. „Es ist genau so wie Tae es immer beschrieben hat. So weit und so voller Freiheit." Er lehnte sich so weit es ging über die Leitplanke und schnupperte die salzige Seeluft. „Und es riecht so ganz eigen. Es ist unglaublich."  „Warte mal bis du am Strand bist und die Sonne untergeht. Das ist magisch", warf ich ein und er streckte die Arme aus und schloss für eine Sekunde die Augen. Ich stand nur da und beobachtete ihn, ebenfalls genauso glücklich wie er es war. „Hope, Hope." Er hörte auf mit den Armen in der Luft zu segeln und sah mich an. „Lass uns ein Selfie machen, okay? Dann habe ich eine Erinnerung." Ich lächelte. „Aber die Hast du doch auch hier, oder nicht?" Ich legte meine Hand auf seine linke Brust. „Ja, aber ich mag Selfies, komm." Wieder zog er sein Handy heraus und nachdem wir bestimmt fünf Minuten gebraucht hatten, um uns in eine Position zu bringen, in der man sowohl uns, als auch das türkis-blaue Meer sehen konnte betätigte Yoongi den Auslöser und lächelte zufrieden, als er sein fertiges Werk begutachtete.

„Komm, lass uns runter zum Strand fahren. Die Sonne geht bald unter uns ich glaube nicht, dass du das verpassen willst", erklärte ich ihm und ehe ich mich versah, war er schon wieder ins Auto gehüpft und hatte sich angeschnallt. Ich schüttelte amüsiert meinen Kopf und stieg ebenfalls ein. Er war so süß, wenn er sich über etwas richtig freute und ich wünschte, dass er immer so sein könnte, wie er es jetzt war.

Yoongis Freude verstärkte sich je näher wir dem Meer und dem Strand kamen. Das merkte man daran, dass er kaum still sitzen konnte und mich immer wieder bat doch etwas schneller zu fahren. Da ich aber weder die Geschwindigkeitsbegrenzung überschreiten, noch einen Unfall bauen wollte, musste er sich noch etwas gedulden.

Schließlich hielt ich den Wagen an einem Zeltplatz, den ich mir extra gestern Abend noch aus dem Internet ausgesucht hatte. Er war nicht groß und Besucher waren auch keine da. Aber das störte mich nicht. Im Gegenteil. Ich war froh, dass wir beide unsere Ruhe haben würden und nicht von irgendwelchen fremden Leuten die ganze Zeit beobachtet werden konnten.

Sobald der Wagen zum Stehen kam, riss Yoongi, diesmal noch aufgeregter als davor, die Tür auf und wollte schon Richtung Meer sprinten, als mir einfiel, dass es vielleicht klug wäre das Zelt aufzubauen bevor es Dunkel werden würde.

„Yoongi? Komm zurück!", rief ihn also auf halber Strecke zurück und er sah mich etwas enttäuscht an. „Was ist denn?" „Lass uns noch schnell das Zelt aufbauen. Ich glaube nicht, dass das einfacher wird, wenn wir warten bis es dunkel ist." Ich holte die Camping-Montur von der Ladefläche des Pick-up's und breitete sie vor uns aus. „Ja, okay. Aber lass uns schnell machen. Ich will unbedingt an den Strand."

Das mit dem schnellen-Zelt-aufbauen war nicht sonderlich schwer, den zu zweit hatten wir schnell die ganzen Stangen miteinander verbunden und in den Stoff des Zeltes eingefädelt. Keine zehn Minuten später stand das Zelt und ich war erstaunt wie leicht es gewesen war es aufzubauen. Denn als ich es das letzte Mal aufgebaut hatte, hatte es bei mir schon eine halbe Stunde gedauert bis ich überhaupt fertig war die passenden Stangen zu verbinden. Das Einfädeln hatten dann nochmal eine halbe Stunde Zeit in Anspruch genommen und als ich dann damit fertig war, war ich so kaputt gewesen, dass ich mich erstmal zehn Minuten ausruhen musste.

„Jetzt aber zum Strand! Los komm, Hope!", rief Yoongi freudig, nachdem er die Schlafsäcke im Inneren des Zeltes fertig ausgebreitet hatte und lief los.

So liefen wir gemeinsam eine kleine Düne hinauf, von der man einen noch besseren Überblick über den Strand hatte und setzten uns am höchsten Punkt in den immer noch von der Sonne gewärmten Sand. Ich nahm den kleinen Rucksack, den ich mir noch schnell geschnappt hatte, bevor ich Yoongi zu der Düne gefolgt war, von meinem Rücken, öffnete ihn und holte die große Brotzeitbox heraus.

„Hast du Hunger? Ich habe Sandwiches, wenn du magst." Yoongi welcher bis jetzt fasziniert beobachte hatte, wie die Wellen mit einem Rauschen kontinuierlich am Strand brachen, wandte den Kopf und nickte. „Was hast du denn?" „Mhhh." Ich öffnete die Box und warf einen prüfenden Blick hinein. „Schinken-Käse, Salami, zwei mit Frischkäse und noch welche einfach nur mit Schnittlauch-Butter." Ich gab ihm die Box und nachdem er sie ebenfalls kurz in Augenschein genommen hatte, griff er sich zielsicher ein Schinken-Käse Sandwich heraus und gab mir die Box wieder. Auch ich hatte inzwischen Hunger bekommen und genehmigte mir ebenfalls eines der belegten Brote.

Als ich die Box wieder sicher in meinem Rucksack verstaut hatte, blickte ich auf und konnte fasziniert beobachten wie sich der Himmel langsam aber sicher rot färbte und die Sonne begann sich zu senken. Yoongi lächelte leicht und legte den Kopf auf meine Schulter ab.

„Wow. Es ist wunderschön. Tae hätte es sicher gefallen", hauchte er gerade so laut, dass ich es verstehen konnte. „Das hätte es sicher." Ich legte einen Arm um meinen neuen kleinen Bruder.

„Glaubst du, dass er uns jetzt von da oben beobachtet und es auch sieht?", fragte Yoongi nach einer Weile des Schweigens und ich nickte. „Da bin ich mir ganz sicher. Auch wenn es vielleicht komisch klingt, aber ich glaube, dass dich Tae niemals verlassen hat, Yoongi." Der Jüngere drehte etwas ratlos den Kopf. „Er ist tot, Hope. Natürlich hat er mich verlassen." Doch ich schüttelte den Kopf. „Hat er nicht. Er lebt in deinen Erinnerungen weiter und ich bin mir ganz sicher, dass er immer von da oben auf dich aufpasst und nicht zulässt, dass dir etwas passiert." Yoongi schien, dass alles nicht zu glauben, denn er sah mich mit einem mehr als skeptischen Blick an. 

„Echt? Aber dann hätte er nicht zugelassen, das Mama mich schlägt und Jungkook und seine Freuden mich mobben." Ich strich ihm sanft über den Kopf. „Hat er doch auch nicht, oder? Er hat dir Hilfe geschickt, oder nicht?" Yoongi, welcher langsam zu verstehen schien, sah mich mit großen Augen an. „Du meinst, dass er dich geschickt hat, damit du auch mich aufpasst?" Ich zuckte die Schultern. „Wir werden es nie erfahren, aber ich könnte es mir vorstellen." Yoongi nickte bedächtig. „Stimmt. Er hat mir einen neuen großen Bruder gegeben. Einen neuen Tae, wenn man so will." Ich schmunzelte leicht, war ihm aber keineswegs böse, dass er mich als einen ‚neuen Tae' bezeichnete.

„Ich danke dir, Hope", sagte er plötzlich sehr ernst und sah mich an. „Ich danke dir, dass du auf mich aufpasst und mich gerettet hast. Und auch, wenn das jetzt echt schnulzig klingt, aber du hast mir wieder den Sinn des Lebens näher gebracht. Und ich bin dir so unglaublich dankbar. In dir steckt so viel Gutes, dass es eigentlich schon zwei Menschen bräuchte um es zu tragen." Ich lächelte leicht und gab ihm einen kurzen Kuss aufs Haar. „Danke Yoongi. Ich bin froh, dass du das sagst. Du bist der beste kleine Bruder, den ich mir hätte wünschen können." Es kehrte wieder Stille zwischen uns beiden ein; nur das Rauschen des Meeres störte sie.

Yoongi hatte gesagt, dass ihm den Sinn des Lebens wieder gezeigt hatte, aber ich würde lügen, wen ich behaupten würde, dass er nicht auch dasselbe für mich getan hatte. Bevor ich dem verschrecktem 15-Jährigen eine heiße Schokolade serviert hatte, war mein Leben eintönig und langweilig gewesen. Und ich hätte nicht gedacht, dass dieser Spruch, den mir Seokjin immer eingetrichtert hatte, mal so ein großes Maß an Wahrheit mit sich bringen würde, denn immer, wenn ich ihn damit geneckt hatte, dass er so unnötig viel Zeit in die Zubereitung von Heißgetränken steckte, hatte er immer nur gelächelt und gesagt „Eine mit Liebe zubereitete heiße Schokolade kann das Leben eines Menschen verändern". Und jetzt in dem Moment gab ich ihm recht.

„Kannst du mir noch was versprechen, Hope?", wollte Yoongi wissen, als die Sonne schon fast im Meer verschwunden war und der Himmel das kräftigste Rot angenommen hatte, das ich je gesehen hatte. „Versprich mir, dass du mich nicht verlässt." Ich nickte, ohne zu zögern. „Ich verspreche es. Kannst du mir im Gegenzug dasselbe versprechen?" Yoongi nickte ebenfalls. „Großes Yoongi-Ehrenwort." Er grinste und umarmte mich ganz fest.

„Danke, dass du mein großer Bruder bist, Hope. Ich liebe dich."

Ich lächelte nur und strich ihm durch sein Haar.

„Ich liebe dich auch Yoongi. Vergiss das bitte nicht."

Hope World | YoonseokWhere stories live. Discover now