Schlussstrich

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Während ich alleine im Treppenhaus saß und darauf wartete, dass genug Zeit vergangen war und ich wieder zurück in mein Zimmer gehen konnte ohne Liam zu begegnen, traf ich eine Entscheidung. Ich durfte Liam auf keinen Fall weiterhin spüren lassen, wie sehr ich noch immer unter unserer Trennung litt. Er durfte nicht merken, was für einen großen Einfluss er auf mich hatte. Wenn ich es hinkriegte, jeglichen Kontakt mit ihm zu vermeiden, würde er hoffentlich realisieren, dass ich über ihn hinweg war und er mich schlicht und einfach nicht mehr interessierte. Dass das absolut nicht der Wahrheit entsprach, spielte überhaupt keine Rolle. Denn ihm zu zeigen wie schlecht es mir ging, würde definitiv nicht helfen.

Irgendwann war ich mir sicher, dass Liam nicht mehr in der Nähe meines Zimmers sein würde. Hunger hatte ich auch nicht wirklich, weshalb ich auf das Frühstück verzichtete und mich stattdessen wieder ins Bett legte. Offenbar die richtige Entscheidung, denn bereits nach wenigen Minuten spürte ich, wie die Müdigkeit mich endlich besiegte.

„Glaubst du ihm etwa?" Es war Lukes Stimme, die mich aufweckte, obwohl er nicht sonderlich laut sprach. „Ich habe keine Ahnung was ich glauben soll. Also dass er nichts von unseren Plänen wusste, stimmt ja laut Harry. Aber wenn er wirklich nur das Beste für sie will, wieso hat er sich dann von ihr getrennt und seitdem kein Wort mehr mit ihr gesprochen? Das macht doch überhaupt keinen Sinn!" Das war Caro. Auch sie sprach mit gesenkter Stimme. Offenbar wollten die beiden mich nicht aufwecken. Mit geschlossenen Augen blieb ich auf der Seite liegen und hörte ihnen weiter zu. „Vermutlich sollte ich ihm dankbar sein.“, murmelte Luke. „Hätte er sich nicht von ihr getrennt, wäre einiges zwischen uns anders gelaufen… Aber trotzdem. Sein Verhalten war grausam. Mia derart leiden zu lassen… Ich glaube ihm einfach nicht.“ Für ein paar Minuten herrschte Schweigen. Dann sagte Caro: „Ich wüsste echt zu gerne, was die beiden vorhin besprochen haben.“ – „Sie ist noch hier. Das ist zumindest schon mal ein gutes Zeichen.“, stellte Luke fest. Wieder schwiegen beide. Irgendwann spürte ich wie sie die Matratze bewegte. „Ich geh kurz was zu trinken holen. Möchtest du auch etwas?“ Caro antwortete nicht, vermutlich nickte sie bloß oder schüttelte den Kopf. Wenig später fiel die Tür dumpf ins Schloss. Schnell drehte ich mich um, öffnete die Augen und richtete mich auf. Caro sah mich erschrocken an. „Mia! Ich dachte du schläfst! Hast du etwa-“ Doch die Zeit war zu knapp, um sie ausreden zu lassen. „Weißt du welche Zimmernummer Liam hat?“ – „Liam? Was zur Hölle willst du in Liams Zimmer?“ Ich sah sie flehend an. „Ich muss nur kurz etwas erledigen. Oh und kannst du Luke irgendwie ablenken?“ Caro sah alles andere als überzeugt aus. „Mia, was hast du vor?“ Ich stand auf, öffnete meinen Koffer und holte die kleine samtene Box heraus, die ich immer dabei hatte. „Bitte sag mir einfach welches sein Zimmer ist.“ – „Mia…“ – „Bitte.“ Seufzend schüttelte Caro den Kopf. Dann sagte sie leise: „224.“ – „Danke.“, entgegnete ich und ließ sie alleine im Zimmer zurück.

Wenn ich wirklich endgültig über Liam hinweg kommen wollte, musste ich das hier tun. Es war albern, noch länger daran festzuhalten. Sein Zimmer war nur wenige Schritte entfernt. Zum Glück war gerade niemand auf dem Flur unterwegs. Ob Liam in seinem Zimmer war oder nicht, spielte keine Rolle. Solange ich ihm nicht begegnete war alles gut. Vorsichtig öffnete ich die Box und nahm den Inhalt heraus. Es fühlte sich an, als würde ich einen Teil meiner Seele herausreißen. Doch in Wahrheit wollte dieser Teil endlich frei sein. Denn er gehörte schon längst nicht mehr zu mir. Meine Hand zitterte, als ich mich bückte und den Inhalt der Box direkt vor Liams Zimmertür legte. Früher oder später würde er es finden. Von irgendwoher hörte ich Stimmen immer näher kommen. Schnell richtete ich mich wieder auf und ging zurück zu meinem und Lukes Zimmer.

Ich fühlte mich frei. Und jetzt endlich konnte ich mir ausmalen, wie schön diese Reise werden würde. Daran würde selbst Liam nichts ändern können. Denn ich hatte einen Schlussstrich gezogen.

LIAMS SICHT:

„Du hättest es mir sagen müssen!“, fauchte ich und warf Harry einen wütenden Blick zu. Wie zur Abwehr hob er die Hände. „Mag sein. Aber was hätte das gebracht?“ – „Ich hätte es dir ausreden können!“ Harry schnaubte. „Wolltest du deshalb mit ihr reden? Um ihr zu sagen, dass sie bitte wieder gehen soll?“ – „Natürlich nicht.“, entgegnete ich. „Ich habe ihr nur gesagt, dass ich mich von ihr fernhalten werde.“ Obwohl ich mich nach nichts so sehr sehnte, wie ihrer Nähe. „Du willst dich also von ihr fernhalten?“, fragte Harry mit hochgezogenen Augenbrauen. „Allerdings.“, log ich. Natürlich glaubte er mir kein Wort. „Du kannst mir doch nicht erzählen, dass sie dir überhaupt nichts mehr bedeutet. Das ist absoluter Schwachsinn und das weißt du genauso gut wie ich.“ – „Gar nichts weißt du! Ich will Mia nicht in meiner Nähe haben, aber was ich will scheint dich ja kaum zu interessieren.“ Wütend erhob ich mich, wobei mein Stuhl nach hinten umkippte. Ich machte mir nicht die Mühe, ihn wieder aufzustellen.

Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal. Die Bewegung half ein wenig gegen die Wut, die in mir brodelte. Wieso musste Harry sich immer in alles einmischen? Ständig suchte er nach irgendwelchen Möglichkeiten, um mich zum Reden zu bringen. Als sei er ein verdammter Therapeut. Ich konnte ihm nicht sagen, was damals passiert war. Weshalb ich diese Entscheidung getroffen hatte. Er würde es ohnehin nicht verstehen. Niemand würde es verstehen.

Mit zu Fäusten geballten Händen lief ich den Flur entlang. Fast hätte ich mein Zimmer verfehlt. Meine Hände zitterten vor Wut, weshalb ich einige Anläufe brauchte, um die Tür mithilfe der Schlüsselkarte zu öffnen. Dabei fiel mir etwas Silbernes auf, das auf dem Boden, direkt vor meinen Füßen, lag. Vermutlich hatte eine der Putzfrauen etwas verloren. Seufzend bückte ich mich, um es aufzuheben. Mitten in der Bewegung hielt ich inne. Nein. Ich hob das Armband auf, trat in mein Zimmer und ließ mich kraftlos auf das Bett fallen. Nein. Bitte nicht. Doch es bestand überhaupt kein Zweifel. Ganz vorsichtig, um es bloß nicht kaputt zu machen, ließ ich das silberne Armband durch meine Finger gleiten. Der Schriftzug war noch immer gut zu erkennen.

‚I hope I’m not a causality, hope you won’t get up and leave. Might not mean that much to you, but to me it’s everything.’

Mit zitternden Fingern drehte ich das dünne Silberplättchen um. Drei Worte, von mir an sie. ‚Ich liebe dich‘. Ganz langsam glitt mir das Armband aus den Fingern und landete zwischen meinen Füßen. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Und dann, zum ersten Mal seit einem halben Jahr, ließ ich den Tränen freien Lauf. 

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nur kurz zur Info: wenn kein Name am Anfang eines Kapitels steht, ist das immer aus Mias Sicht! Alles andere 'kündige ich an' :) nur damit es keine Verwirrung gibt, wenn ich nicht jedes Mal 'MIAS SICHT' schreibe ;)

Don't let me go..Where stories live. Discover now