5 - Dean

108 18 0
                                    

„Was ist gerade passiert?", fragte Rose und Furcht blitze in ihren braunen Augen auf.

Der verdammte Fahrstuhl war abgesunken, das war passiert. Rose erhob sich schwankend, doch ihr Blick war leer, als plagte sie noch mehr als nur die Angst.

Ich schenkte ihr nicht weiterhin Beachtung. Wahrscheinlich war sie im Schock, genau wie ich. Trotzdem fürchtete ich mich nicht. Rose dagegen schien Todesangst zu haben.

Ich hatte nie Selbstmordgedanken gehabt oder den Drang mich selbst zu verletzen. Es hätte mir nicht geholfen den Schmerz zu überstehen. Es hätte mir nur mehr körperlichen hinzugefügt. Ich verstand die Logik dahinter nicht. Man wollte doch, dass man gar keinen Schmerz mehr verspürte, wieso machte man es dann noch schlimmer, in dem man sich selbst verletzte?

Das einzige was ich wollte war, dass endlich alles aufhörte. Ich wollte nicht diese Atempausen haben, in denen alles gut war und ich langsam wieder Vertrauen aufbaute. So sehr wollte ich ihnen wieder in die Augen sehen können. Doch von jedem Mal wurde es schwieriger und eigentlich hatte ich keine Lust mehr. Ich hatte es so Leid mich kaputt machen zu lassen.

Ich wusste nicht mehr, ob die Zeit bevor Mazon ausgezogen war schlimmer war als die danach. Von einem Tag auf den anderen verschwanden die Möbel aus seinem Zimmer und insgeheim hatte ich es schon geahnt. Warum konnte er es mir nur nicht selbst sagen? Wieso kam er eines Tages nicht mehr nach Hause?

Mom war es, die es mir erzählte. Sie hatte ihren Ich-muss-dir-was-wichtiges-erzählen-Blick aufgesetzt und ich fragte sie, ob es etwas Schlimmes sei. Das tat ich immer, wenn sie mich so ansah. Sie verneinte, doch innerlich widersprach ich ihr.

Die Nachricht war noch schlimmer als die Nächte, in denen sogar die Bäume vor meinem Fenster zu Monstern mutierten.

Natürlich wusste ich, dass er nicht für immer hierbleiben konnte. Er musste raus - raus aus diesem Kaff. Mein Bruder war zu so viel Größerem bestimmt, als er ahnte.

Ich fühlte mich auf einmal schutzlos, als würde der letzte Rest, der noch von meiner Familie geblieben war, langsam verschwinden. Als hätte ich es einfach im Waschbecken heruntergespült.

„Ich werde nur einen Anruf entfernt sein", hatte er zu mir gesagt. Dabei wussten wir doch beide, dass es eher wahrscheinlicher war, den Weihnachtsmann zu treffen, als mit ihm im Kontakt zu bleiben.

Eine Zeit lang hatte ich sogar vergessen, dass wir beide dasselbe durchgemacht hatten. Wir beide waren durch die Hölle gegangen. Doch irgendwie hatte jeder für sich allein gekämpft.

Mazon, dachte ich, während meine Augen sich öffneten und ich zu Rose schaute, die verzweifelt an der Aufzugstür lehnte, ,,wann waren nur unserer Flügel geschmolzen? Niemals hätte ich mich zu nah an die Sonne getraut."

Als es das letzte Mal wieder eskalierte, wollte ich dich nur noch anrufen und anflehen vorbeizukommen. Stundenlang empfing mich nur die Stimme deiner Mail Box.

Du hast mich angelogen und hintergangen, Mazon. Ich hoffe eines Tages erfährst du am eigenen Leibe, wie sich das anfühlt. Die meiste Zeit gibst du mir das Gefühl, ich wäre für dich selbstverständlich. Ich habe es so satt von dir abhängig zu sein, hörst du?

Erst Tage später saß ich bei dir in deinem WG-Zimmer. Auf deinem Bett, was eigentlich nur eine Europalette, mit einer Matratze darüber, war.

Ich sah dich mit Tränen in den Augen an und wünschte, du würdest sehen, dass ich zuhause nicht mehr bleiben konnte. Sogar du musstest weinen und ich hasste mich abgrundtief, dass ich nach all der Zeit erst jetzt den Mut hatte, mich jemanden anzuvertrauen.

Jedes Mal, wenn wir uns sehen fragst du mich, wie es mir geht und wie es zu Hause läuft. Weißt du, Mazon, jedes Mal wünsche ich mir, du würdest diese Frage nicht stellen. Denn ich will dich nicht anlügen. Ich will nicht immer derjenige mit den schlechten Nachrichten sein.

Ich habe keine Kraft mehr, dir erklären zu müssen, dass sich nichts verändert hat. Dass es nicht besser geworden ist. Und auch, wenn es so wäre, denkst du ich könnte all die Dinge vergessen? Denkst du ich könnte ihnen verzeihen?

Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich gebraucht habe. Das hast du noch nie kapiert. Du hast das Recht auf ein besseres Leben, aber weißt du? Ich bin eifersüchtig. Eifersüchtig darauf, dass ich nicht einfach gehen kann.

Und ich habe das Gefühl, dass du darüber froh bist. Weil ich weiß, dass ich nur eine verdammte Last bin, die dich noch an den ganzen Scheiß erinnert, den du durchgemacht hast. Ich weiß doch selbst, wie es ist, wenn man Freunde hat, die andauernd von ihren Problemen erzählen.

Verstehst du? Ich will nicht so jemand sein. Ich will dir gute Sachen erzählen können und nicht das alles.

Ich wünschte, ich wäre damals schon so reif gewesen, wie du. Ich wünschte, ich wäre damals schon so tiefgründig gewesen, wie du.

Das sind Sätze, die ich oft von dir zu hören bekam, doch du hast keine Ahnung, was du da sagst.

Als kleines Kind solltest du nicht tiefgründig oder reif sein. Als Kind solltest du dich über Spielsachen aufregen und nicht zu allen möglichen toten Göttern beten, dass du deine wahren Gefühle am nächsten Tag vor deinen Freunden verbergen kannst.

Früher habe ich oft von dir zu hören bekommen, dass ich egoistisch sei. Wirklich, ich habe es selbst von mir gedacht und doch, war ich gleichzeitig wütend auf dich. Weil ich eigentlich dachte, du siehst, dass ich nie aus Egoismus gehandelt habe, sondern mehr die Angst in mir. Ich hatte viel zu viel Angst vor Mom und Dad, als das ich hätte an mich denken können.

Ich wollte nur keinen Ärger machen. Wenn du zu spät nach Hause kamst, saß ich stundenlang auf den kalten Fließen in unserem Bad, weil man von dort den besten Blick auf die Straße hatte, und hab auf dich gewartet.

Ich hätte damals alles für dich geopfert. Für wen hätte ich es sonst tun sollen?

Wenn die Schränke und Türen knallten, manchmal etwas nach mir geflogen kam, Mazon, da hatte ich sogar Angst vor dir.

„Ich liebe dich großer Bruder", dachte ich, als der Fahrstuhl erneut zu schwanken begann und Rose erschrocken aufschrie. „Doch wo warst du, als meine Flügel geschmolzen sind?"

DeadrosesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt