8 - Rose

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Ich fühlte mich, als hätte mir jemand mit einem Baseballschläger die Schädeldecke eingeschlagen und das Schlimmste daran war, dass ich noch bei Bewusstsein war. Blut lief mir über die Stirn und eine Stelle an meinem Hinterkopf pochte pulsierend.

Gerade öffnete Dean seine Augen, die er bis gerade eben noch fest zusammengekniffen hatte und blickte schmerzverzerrt auf das Blut in seiner Hand. Bei dem ruckartigen Aufprall musste er sich seine Hand gebrochen haben, die er jetzt behutsam an seine Brust presste, um sie nicht weiter zu belasten.

Benebelt tastete ich meinen Körper nach weiteren Verletzungen ab, doch bis auf ein paar Prellungen war ich noch mal davongekommen.

Der Fahrstuhl hing nun komplett schief, sodass ich neben Dean kniete und sich unsere Schultern berührten.

„Geht's dir gut?", fragte ich ihn und berührte leicht seinen Arm. Dean hob träge den Kopf und ich machte mir sorgen, dass sein Kopf zu viel abbekommen hatte.

Plötzlich wurden die Stimmen von draußen lauter.

Ich wollte sie auf uns aufmerksam machen, doch die Gefahr war zu groß, dass der Aufzug dem nicht standhalten konnte. In den Wänden klafften Dellen und man musste aufpassen, dass man sich nicht irgendwo die Haut aufschlitzte.

Dean regte sich neben mir, doch er sah aus, als würde er jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Ich schrie um Hilfe, da das das Einzige war, was ich in dem Moment tun konnte.

Auf einmal ertönten schabende Geräusche und ich konnte kleine Funken, durch den leicht geöffneten Schlitz, der beiden Aufzugstüren, erkennen.

Das musste die Feuerwehr sein! Sie kamen uns endlich holen! Doch noch waren wir nicht in Sicherheit. Ich drückte Deans unverletzte Hand, doch er rührte sich nicht.

Die Stimmen wurden nun immer klarer, die Türen wurden quälend langsam aufgezogen und eine junge Frau blickte uns entgegen. Sie trug die typische Feuerwehrkleidung und das war wohl im Augenblick das schönste, was ich je gesehen hatte.

„Wir werden Sie jetzt befreien", sagte sie ruhig. „Sind sie verletzt?"

Ich musste die Augen zusammenkneifen, da das grelle Licht zu viel für meine Augen war.

„Er ist bewusstlos", versuchte ich herauszubringen. Meine Stimme war rau und schmerzte, als hätte ich zwei Tage lang nichts getrunken. Konnte der Aufzug überhaupt das Gewicht von noch einer weiteren Person tragen?

„Und er ist am Kopf verletzt."

Meine Augen gewöhnten sich langsam an das gleißende Licht und ich bemerkte, dass sich noch eine Vielzahl von Rettungskräften hinter der Frau befand. Ich erkannte die Farbe der Fließen im Hintergrund und wusste daher ungefähr, in welchem Stockwerk wir uns befanden.

Aber konnten wir denn soweit abgestürzt sein? Das Verlagsgebäude besaß sechzig Stockwerke und wir befanden uns nun höchstwahrscheinlich in der Mitte.

Beruhigend versuchte die Feuerwehrfrau auf mich einzureden. „Wir holen sie hier heraus. Wie ist ihr Name?"

„Ro-se", stammelte ich erschüttert. Durch meine Adern raste das Adrenalin, da die Rettung zum Greifen nah war. „Rose Johnson."

„Okay, Rose, wir werden jetzt den jungen Mann langsam versuchen aus dem Fahrstuhl zu ziehen. Sind Sie sich sicher, dass er bewusstlos ist?"

Ich rüttelte erneut an Deans Schulter, jedoch ohne eine Reaktion von ihm zu bekommen. Ich war so aufgewühlt, dass ich nicht einmal mehr sagen konnte, ob er noch atmete. Ich schüttelte ihn nun etwas heftiger und endlich öffnete er benommen seine Augen.

Er schien ebenfalls zu realisieren, dass die Feuerwehr dabei war uns zu befreien und versuchte sich langsam aufzusetzen, was den Aufzug allerdings wieder gefährliche Geräusche von sich geben ließ.

Nach ein paar riskanten Manövern war er doch schließlich sicher in den Händen der Rettungskräfte gelandet. Sie zogen ihn mit vereinten Kräften durch die Eingangstüren und als er sicher war, stürzten sich sofort die Sanitäter auf ihn.

Ich atmete tief aus, als Dean endlich außer Gefahr war. Nun war ich an der Reihe.

Ich robbte vorsichtig in Richtung der Türen und versuchte mich so groß wie möglich zu machen. Ich streckte die Arme nach den Händen der Feuerwehrfrau aus, um mich von ihr aus dem Fahrstuhl ziehen zu lassen. Jedoch war ich nicht so groß wie Dean. Meine Arme waren zu kurz und daher fehlte noch ein gutes Stück bis zu den rettenden Händen der Feuerwehrfrau.

Tief einatmend, versuchte ich nicht in Panik zu geraten. Meine Schulter pochte, als ich zum wiederholten Mal versuchte, den geöffneten Spalt zu erreichen.

Die Öffnung, die die Rettungskräfte mit Hilfe von Brechstangen frei gemacht hatten, reichte nicht dafür aus, dass die Frau sich weiter zu mir lehnen konnte.

Plötzlich erkannte ich einen Feuerwehrmann, der versuchen wollte, nach meinen Armen zu greifen, dabei aber den Fehler machte und sein Gewicht zu sehr auf den Aufzug belastete. Dieser gab erneut ein ohrenbetäubendes Kratzen von sich, während er mit einem Ruck ungefähr einen Meter weiter absank.

Erneut ertönten Rufe und neue Kommandos wurden gebrüllt.

Ein letztes Mal versuchte ich die Hände der Retter zu erreichen, da meine Kräfte langsam schwanden. Meine Augen wurden immer schwerer und ich bekam Krämpfe in Armen, Beinen und meinem Rücken.

Ich konnte nicht weinen. Ich konnte nicht schreien.

Nicht einmal, als die Augen der Feuerwehrfrau sich weiteten und der Mann neben ihr noch versuchte, mich zu packen. Ich entglitt ihnen wie etwas, was von Anfang an unerreichbar gewesen war. Wie das Erwachen aus einem Tagtraum, der so viel besser war als die Realität.

Die Menschen schienen sich von mir zu entfernen. Ich hörte Schreie und ich sah Deans erschrockenes Gesicht, als er sich an den Rettungskräften vorbei drängte. Doch es war zu spät.

Ich merkte erst, dass sich nicht die Leute von mir entfernten, sondern ich diejenige war, die in die Dunkelheit der Tiefe gezogen wurde, als ein kalter Wind mir durch die Haare fuhr.

Ich hatte keine Angst und trotzdem spürte ich den unsichtbaren Druck, der meine Brust in Anspruch nahm.

Dean rief meinen Namen und ich spürte all seinen Schmerz, den er in diesen Schrei legte. Doch ich konnte ihm diesen Schmerz nicht abnehmen. Nicht dieses Mal.

Ich hoffte, dass er irgendwann die Dinge verkraften konnte, die ihm angetan wurden und dass er aufstehen und seinen eigenen Weg gehen würde.

Ich hoffte, dass er eines Tages glücklich werden würde, auch wenn er glaubte nie wieder Liebe und Vertrauen empfinden zu können. Ich glaubte an die Stärke in ihm, weil er all die Jahre überlebt hatte, wo manche längst aufgegeben hätten.

Er verdiente ein besseres Leben. Er verdiente Menschen, die ihn liebten und jeden einzelnen Tag mit ihm als Geschenk sahen. Denn das war es, was er war. Ein Geschenk.

Ich hasste das Leben dafür, dass es Dean schon in so jungen Jahren durch die Hölle hatte gehen lassen. Uns beide.

Doch das Leben war ein Geschenk. Wir dürfen die Zeit, die uns bleibt, nicht vergeuden, denn wir haben keine Ahnung, was danach kommt oder nicht kommt.

Ich hoffte aus tiefstem Herzen, dass er das eines Tages auch verstehen würde. Trotz der Dinge, die wohl für immer auf seinen Schultern lasten würden. Ich konnte sie ihm nicht abnehmen.

Und ich war mir sicher, dass ich er sich für mich dasselbe wünschte. Doch vielleicht war das hier nicht der richtige Ort für mich. Vielleicht gehörte ich nicht hierher – nicht zu Dean.

Bevor ich die Augen schloss, weil sich Deans Gesicht immer weiter von mir entfernte, dachte ich an meinen Vater. Ob er mich wohl vermissen würde? Ob er um mich weinen würde, sowie ich die vielen Nächte allein in meinem Bett geweint hatte?

Dean würde hoffentlich, wenn er einmal älter war, alles besser machen. Er musste sein Leben leben. Jetzt mehr denn je. Denn jetzt, musste er für uns beide leben.

𝗘𝗡𝗗𝗘

DeadrosesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt