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Ich hatte mich schon gewundert, wie Jungkook bei Nacht überhaupt ins Wohnhaus gekommen war, denn geklingelt hatte er hoffentlich nicht, doch da die Eingangstür offen war, ging ich davon aus, dass sie von vornherein schon geöffnet gewesen war, sodass der Jüngere niemanden aus seinem Schlaf geklingelt haben dürfte. So hielt mich jetzt auch nichts mehr ab, das Treppenhaus zu betreten und, jede zweite Stufe überspringend, nach oben zu sprinten.

Mein Atem war flach und übereilt, als ich oben vor der schweren Eisentür stand, die mich von dem Dach und hoffentlich auch von Jungkook, trennte. Mit einem leisen Ächzen stieß ich sie auf und betrat die ebene Fläche.

Frischer Wind traf sogleich auf mein Gesicht, sodass sich meine blauen Haare kräuselten und ich mich aus Reflex anspannte, da mir ein wenig kalt war.

Nichts davon hinderte mich allerdings daran, den Platz zu betrachten und nach Jungkook zu gucken. Da die Sterne und der Mond sowie die Laternen unten auf den Bürgersteigen und die Lichter der Stadt das Einzige waren, das diesen Ort beleuchtete, mussten sich meine Augen erst einmal an die Dunkelheit gewöhnen. Doch bereits nach kurzem Umschauen - und einem vom Herzen fallenden Stein - entdeckte ich einen gekrümmten Schatten, der sich zusammengekauert an das Geländer drückte.

Ich danke euch, ihr lieben Engel im Himmel.

Bis zum Schluss hatte ich Angst gehabt, dass ich mit meiner Vermutung falsch gelegen hätte und Jungkook hier gar nicht vorfinden würde. Aber ihn nun zu sehen, erleichterte mich unglaublich.

Mit zügigen, doch gelassenen Schritten trat ich zu dem Jungen und beugte mich, bei ihm angekommen, zu ihm herunter, woraufhin er seine Hände, die zuvor sein Gesicht versteckt gehalten hatten, von diesem nahm und mich mit großen Augen ansahen.

Seine Wangen waren tränenunterlaufen, seine Pupillen geweitet, seinen Wimpern verklebt.

Er hat geweint.

"Taehyung?", fragte mich Jungkook dann mit krächzender Stimme. Ich nickte langsam.

"Ja, ich bin es. Ich bin hier."

Er blickte mich lange an, verunsichert, als könnte er nicht glauben, dass ich tatsächlich hier wäre, als auf einmal dicke Tränen aus seinen dunklen Augen kullerten und er zu schluchzen begann.

"Es tut mir so Leid", weinte er plötzlich, weshalb ich ihn bloß fassungslos und verwirrt zugleich betrachten konnte. "Es tut mir so Leid, Taehyung. Ich bin so ... armselig und widerwärtig. Ich verstehe gar nicht, wieso du dich überhaupt um mich sorgst. Alles an mir ist ekelhaft, ich bin ekelhaft. So armselig, widerwärtig und ekelhaft ..."

Ich war überfordert. Vollkommen. Wieso weinte Jungkook? Wieso sagte er so etwas? Meinte er das etwa ernst? Glaubte er, was er sagte?

"Jungkook, ich-"

"Ich bin nicht besser als meine Mutter", wimmerte er dann und vergrub sein Gesicht wieder hinter seinen Händen. "Ich hasse Alkohol und trotzdem habe ich nach der Flasche gegriffen. Ich bin so eine Schande! Wie konnte ich so etwas bloß tun? Ich bin so unglaublich jämmerlich ..."

Der Dunkelhaarige schluchzte laut, sein ganzer Körper krampfte sich zusammen und er zitterte. Aber ich war mir sicher, dass das nicht allein an der Kälte lag, sondern an den ganzen Emotionen, die sein Inneres gerade zerstörten.

Was ist passiert, dass du so etwas sagst?

"Taehyung", murmelte Jungkook dann jäh und guckte mich ängstlich an. "Es tut mir so Leid. Ich wollte nicht trinken. Wirklich nicht! Ich wollte dir keine Sorgen bereiten, ich will dir keine Last sein. Aber ... dieser Abend ... er war so ... schrecklich."

Er ließ seinen Kopf gegen das Geländer sinken.

"Es war so ... grausam und ... abscheulich. Ich fühle mich so benutzt. Ich schäme mich so sehr."

Jungkook presste seine Lippen aufeinander, um ein aufkommendes Wimmern zu unterdrücken, aber er schaffte es nicht. Weitere Tränen rannen seine weiche Haut hinab, während ich nur hier hocken und ihn verzweifelt betrachten konnte.

"Ich kann nicht mehr", murmelte er. "Ich kann das alles nicht mehr."

Mit wild schlagenden Herzen sah ich den aufgerissenen Jungen vor mir an, dann griff ich nach seinen Händen und umschloss sie mit meinen, woraufhin er mich entgeistert anschaute.

Ich muss dich da rausholen.

"Taehyung, es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht enttäuschen."

"Du bist so wunderschön, Jungkook", entgegete ich leise. Der Dunkelhaarige hielt inne und blickte mich erschrocken an.

"Wie ... bitte?"

"Du bist so wunderschön", wiederholte ich mit gefasster Stimme. "So wunderschön und kostbar, Jungkook. Deshalb ist es mir auch egal. Dass du so viel getrunken hast und ich mir Sorgen um dich machen musste. Das ist mir vollkommen egal. Ich bin einfach nur glücklich, dich hier zu sehen und zu wissen, dass es dir gut geht."

Jungkook schienen meine Worte die Sprache verschlagen zu haben, denn er schaute mich auch weiterhin einzig mit verwirrtem Blick an, während stumme Tränen über seine Wangen liefen.

"Es ist unwichtig", sagte ich dann, "dass du getrunken hast. Du musst mir auch nicht erzählen, wieso du es getan hast. Mir reicht es zu wissen, dass dich irgendetwas so weit getrieben hat, dass du trotz deiner Abneigung zum Alkohol gegriffen hast. Ich bin einfach nur froh, dass jetzt alles gut ist."

Für den Moment zumindest.

Ich hatte keine Ahnung, ob Jungkook verstand, was ich sagte, denn er war immer noch ziemlich betrunken. Aber das war mir ebenfalls egal. Solange er jetzt bei mir wäre, so lange wäre auch alles gut. Der Rest - unwichtig.

Das Einzige, was mir diese Situation hier zeigte, war, dass Jungkook aus dem Libido heraus musste. Sogar noch dringender, als ich es bisher angenommen hatte. Er durfte nicht in diesem Drecksladen bleiben. Er musste da raus. Sofort.

Sonst würde ihn das Libido eines Tages noch umbringen.

Jetzt war er aber bei mir. Und für die nächsten Stunden würde er auch erst einmal bei mir bleiben.

"Jungkook", ich beugte mich vor und presste seinen zierlichen Körper an meinen. Sofort schlang er seine Arme um meine Taille und drückte sich so fest an mich, dass ich das Gefühl hatte, zu ersticken.

Aber es war okay. Diese Umarmung war in diesem Moment sogar perfekt.

"Jungkook", sagte ich dann nach ein paar stillen Augenblicken, in denen ich diese Zärtlichkeit einfach nur genossen hatte, erneut. "Seokjin und Namjoon warten unten auf uns. Wir gehen jetzt zu ihnen und sie fahren uns dann zu der WG von Seokjin und Hoseok. Dort werden wir heute übernachten, ja?"

Der Dunkelhaarige löste sich nach diesen Worten leider viel zu früh von mir und sah mich nervös an.

"Ist das denn wirklich okay?"

Ich nickte.

"Natürlich."

Dann stand ich auf, griff ihm unter Kniebeugen und Achseln und hob ihn hoch, während er sich an mich klammerte und sein Gesicht an meinen Hals drückte, sodass sein warmer Atem meine Haut kitzelte. Jungkook war anscheinend also zu müde und zu betrunken, um sich dagegen zu wehren, dass ich ihn das Treppenhaus im Brautstil heruntertrug, aber das machte es mir umso leichter. Außerdem gefiel es mir, ihn so nah bei mir zu haben, denn das gab mir aus irgendeinem Grund das Gefühl, ihn vor allem Böse dieser Welt beschützen zu können.

Und genau das war es ja auch, was ich tun wollte.

Ihn beschützen.

𝐂𝐎𝐋𝐎𝐔𝐑𝐅𝐔𝐋 | TAEKOOKDonde viven las historias. Descúbrelo ahora