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Es trat der schlimmste Fall ein, denn ich musste tatsächlich bis vier Uhr morgens mit schweren Lidern auf Jungkook warten.

Hinter dem Tresen stand wieder das junge Mädchen, das mich schon "bedient" hatte, als ich für eine ganze Schicht von dem Dunkelhaarigen bezahlt hatte. Sie hatte wohl damit gerechnet, dass ich das Gleiche noch einmal tun würde, doch ich hatte mich nach einer kurzen Begrüßung bloß auf das rote Ledersofa gegenüber von ihr hingesetzt und sie darüber informiert, dass ich auf den Jüngeren warten würde.

In den zwei Stunden, in denen ich hier gesessen hatte, hatte ich unzählige alte Säcke gesehen, die mit notgeilem Gesichtsausdruck das Libido betreten und es Minuten später mit einer Miene voller Befriedigung verlassen hatten. Jeden von ihnen hatte ich mit düsterem Blick gemustert, denn jeder könnte mit meinem Jungkook Sex gehabt haben und das machte mich wütend und traurig zugleich.

Umso glücklicher war ich, als ich ihn dann endlich die Treppen herunterschleichen sah.

Seine Schritte waren unsicher und steif, seine Augen besaßen einen matten Glanz, der Blick war geprägt von Erschöpfung. Obwohl er seinen Hoodie hochgezogen hatte, konnte ich dunkle Flecken an seinem Hals erkennen. Ich wollte gar nicht erst wissen, wie sein restlicher Körper aussah.

Aber das war mir jetzt egal. Hauptsache, er würde jetzt mit zu mir kommen und die restliche Nacht mit mir verbringen.

Jungkook bemerkte mich erst, als ich aufstand und eilig zu ihm ging. Mit überraschter Miene schaute er mich an, noch überraschter erwiderte er meinen Kuss, den ich ihm auf die Lippen drückte, nachdem ich ihn an seiner Taille zu mir herangezogen hatte.

"Taehyung, was machst du denn hier?", fragte er mich verwirrt. Ich blickte ihm ruhig ins Gesicht.

Seine Lippen zittern.

Hatte er Angst? Schämte er sich für den Kuss, den das Mädchen hinter dem Tresen mit großen Augen beobachtet hatte? Wollte er mich nicht küssen?

Nein, es war nichts von alldem, das wusste ich. Jungkook war einfach nur fertig und seine Lippen zitterten, weil er sich vor Müdigkeit kaum noch auf seinen Beinen halten konnte.

Unwillkürlich verfestigte ich meinen Griff.

"Ich kenne dich", murmelte ich. "Wenn ich jetzt nicht hier sein würde, hättest du dich nach deiner Schicht zu dir nach Hause begeben, mit der Ausrede, mich nicht stören zu wollen. Und da ich eh nicht wirklich schlafen konnte, habe ich eben entschlossen, dich abzuholen."

Jungkook starrte mich mit offenem Mund an.

"Du ... das hättest du nicht machen müssen, ehrlich nicht. Ich ... ich will gar nicht wissen, wie lange du auf mich warten musstest."

"Zwei Stunden", entgegnete ich trocken. "Du hast gesagt, ab zwei Uhr könntest du fertig mit deiner Schicht sein, also war ich um zwei Uhr hier. Aber dass ich warten musste, tut nichts zur Sache. Sag mir lieber, wie es dir geht. Ist irgendetwas vorgefallen? Hat dich einer der alten Säcke zu hart rangenommen? Du musst erschöpft sein."

Der Dunkelhaarige seufzte leise, dann beugte er sich vor und gab mir einen zarten Kuss auf die Lippen und presste sich fest an mich.

"Es geht mir gut", nuschelte er in meine Jacke hinein. "Es waren eine lange Schicht und viele Kunden, aber es geht mir gut."

Vorsichtig strich ich Jungkook durch seine zerzausten Haare und stellte mit beruhigtem Gewissen fest, dass er die Wahrheit sagte und mich nicht anlog.

"In Ordnung, dann lass uns endlich nach Hause und ins Bett."

Während er daraufhin zur Garderobe ging, um seine Jacke zu holen, spürte ich den Blick des Mädchens auf mir, weshalb ich mich zu ihr drehte und sie fragend anschaute.

"Ist etwas?", äußerte ich. Sie schüttelte hastig den Kopf.

"Nichts, nur ... Ich kenne Jungkook bereits eine Weile und ich kann dir versichern, dass er in den letzten Tagen und Wochen so gut gelaunt ist wie nie. Das liegt definitiv an dir."

Erstaunt zog ich die Augenbrauen zusammen.

Ob die beiden wohl so etwas wie Freunde sind?

"Ich werde ihn retten und aus diesem Drecksloch hier herausholen", entgegnete ich entschlossen. "Und da ich nicht jeden retten kann, solltest du dir vielleicht ebenfalls einen Retter suchen, der dich von hier wegholt. Das ist kein Ort für so junge Mädchen wie dich."

Einen Moment später tauchte Jungkook aus dem Flur auf. Ich griff nach seiner Hand und nickte dem Mädchen hinter dem Tresen zu.

"Auf Wiedersehen-"

"Danbi", sprach sie.

"Auf Wiedersehen, Danbi."

Dann trat ich mit Jungkook an meiner Seite und meinem Helm auf der anderen aus dem Libido und ging mit ihm zu meinem geparkten Roller. Er hinterfragte nicht, weshalb ich mit Danbi geredet hatte, anscheinend war er zu müde dafür.

"Wow, du hast einen Roller? Ich wusste gar nicht, dass du einen Führerschein besitzt!", rief er dafür aber umso energiegeladener, als ich ihm den Helm gab, den ich für ihn im Fach meines Rollers verstaut hatte.

"Ich wollte nicht zu Fuß gehen und das Fahrrad wollte ich dir auch nicht antun. Da musste das Teil her, auch wenn ich nicht so oft damit fahre."

Jungkook schien sich nicht daran zu stören, denn seine Augen funkelten aufgeregt und er setzte sich enthusiastisch den Helm auf den Kopf. Jegliche Müdigkeit schien wie weggeblasen.

Ich konnte nicht anders, als über seine verspielte Freude zu schmunzeln.

Ist er etwa noch nie mit einem Roller gefahren?

"Komm, setz dich", wies ich ihn an, nachdem ich schon Platz genommen hatte. Mit einem Ächzen ließ er sich auf die freie Fläche hinter mich fallen.

"Halt dich gut an mir fest. Wir sind zwar nicht sonderlich schnell, aber ich will nichts riskieren, mein Hübscher."

"Alles klar", grinste er und legte seine Arme um meinen Bauch. Dann startete ich den Roller.

Die Fahrt war angenehm. Die Straßen waren leer, keine Menschenseele war zu sehen, kein Fahrzeug zu hören. Nicht einmal irgendwelche Vögel waren um diese Uhrzeit wach, sodass ich das Gefühl hatte, als wären Jungkook und ich in diesem Augenblick die einzigen Menschen auf dieser großen, weiten Welt.

Ich konnte spüren, wie sich dieser umguckte, die Umgebung betrachtete und verträumte Seufzer von sich ließ.

"Es ist wunderschön", hörte ich ihn flüstern.

Erst verstand ich nicht, was er hier so wunderschön fand. Aber als ich meinen Blick von der Straße auf den Himmel vor uns fokussierte, auf die Lichter der Laternen, auf die Schatten der Bäume, verstand ich es.

Es waren die Stille, die Freiheit, die Einsamkeit, die Jungkook so genoss.

Kein alter Mann, der ihn durchnahm, kein nerviger Mitschüler, vor dem er den coolen Macho spielen musste, keine alkoholabhängige Mutter, die ihn wie Dreck behandelte.

Hier waren nur Jungkook und ich, allein, mitten auf den Straßen Seouls, bei Nacht, während sich der Himmel über uns weit und klar bis in die Ferne erstreckte.

Ich fuhr einen kleinen Umweg, weil ich wusste, dass der Jüngere Freude an dieser Fahrt hatte. Als wir dann aber endlich Zuhause waren, machten wir uns eilig fertig, ehe wir uns zusammen in mein Bett legten und miteinander kuschelten, während wir beruhigt auf unseren wohlverdienten Schlaf warteten.

Den Wecker hatte ich natürlich ausgestellt. In die Schule würden wir nämlich nicht gehen, das wäre nach dieser ellenlangen Nacht viel zu viel.

Außerdem hatte ich noch etwas anderes vor.

Doch erst einmal hieß es, zu schlafen. Und das klappte mit Jungkook in meinen Armen hervorragend.

𝐂𝐎𝐋𝐎𝐔𝐑𝐅𝐔𝐋 | TAEKOOKWhere stories live. Discover now