1. Herz Über Kopf

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"Also wirklich, Holmes!", brummte der junge Mann, während er neben seinem stummen Gefährten im tiefen Schnee hertrottete. "Wir jagen schon Ewigkeiten durch diese Kälte, und was hat es uns gebracht? Nichts!" "Finden Sie?", fragte Angesprochener und seine dünnen Lippen kräuselten sich zu einem amüsierten Lächeln. "Ja, das tue ich!" "Also ich finde, Miss Taylor konnte uns eine Menge wichtiger Informationen liefern... Was ihnen nicht entgangen wäre, wenn sie nicht schon mental mit einer Tasse Tee und Mrs Hudsons herrlichen Gebäck vor dem Kamin sitzen würden", sagte der Detektiv mit einem Hauch von Vorwurf in der Stimme und hob mahnend seine schmale Hand. "Schon gut", war die leicht gereizte Antwort als sein Gefährte den Mantel trotzig enger um sich schlang, als hoffte er so der beißenden winterlichen Kälte zu entgehen. "Ich verstehe nur nicht, warum Miss Taylor so abseits von jeglicher Zivilisation leben muss, dass man sie nicht einmal mit einer Kutsche erreicht... Meine Füße fühlen sich bereits an wie Eisblöcke!" "Da sagen sie was, Watson..." Holmes gluckste. "Aber gäbe es nicht wenigstens ein paar solcher Hürden, würde es auch keinen Spaß machen!" Begeistert rieb er sich die behandschuhten Hände. "Wir haben offensichtlich eine sehr unterschiedliche Auffassung von dem was Spaß macht", lachte Watson, als er stehenblieb um sich den feinen Pulverschnee, welcher soeben von einen Baum auf ihn hinab gerieselt war, von seiner Schulter zu wischen. "Dann erleuchten sie mich, was sie selbst darunter-" Weiter kam er nicht, da ihn ein eiskalter Schlag auf den Hinterkopf traf, der ihm den Hut vom Kopf fegte. "Watson, was zum-" Der Detektiv wandte sich um, just in dem Moment traf ihn eine neue Ladung Schnee mitten ins Gesicht. "Wirklich sehr erwachsen, Watson", kommentierte als er seinen besten Freund dabei beobachtete, wie es ihn vor lauter Lachen am ganzen Leib schüttelte. Holmes' normalerweise bleichen Wangen waren gerötet von der Kälte, noch immer tröpfelte Schnee von seinem Gesicht und er blickte ziemlich mürrisch drein, doch seine Mundwinkel zuckten verdächtig. "Kommen sie schon, Holmes, sie machen es mir zu einfach", rief Watson und machte sich daran, einen dritten Ball zu werfen, doch diesmal wich sein Gegner ihm gekonnt aus. Watson nahm Deckung wie er bemerkte, dass Holmes nun ebenfalls zum Schneballformen übergegangen war. Zwar war er noch immer agil und wendig, doch Holmes war ein mindestens genauso guter Schütze wie er, weshalb er auch nicht allen herbeifliegenden Schneebällen ausweichen konnte. Er erstarrte mitten in der Bewegung als ihn etwas mit voller Wucht an der Schulter traf, wie von alleine bewegte sich seine Hand auf die Stelle seines Mantels zu, die nun durchnässt von Schnee war, dort wo eine alte Narbe seine Haut zerfurchte, lange verheilt und doch immer präsent und verbunden mit einer Welle schmerzhafter Erinnerungen die, einst vergessen geglaubt, von neuen über ihn hereinzustürzen drohte... Plötzlich trug er wieder seine alte Uniform, spürte den alten Schmerz, die Hoffnungslosigkeit die in diesem fernen Land Besitz von ihm ergriffen hatte und nun erneut drohte, ihn zu ersticken... "Alles in Ordnung, alter Freund?" Die Bilder von Afghanistan, von verletzten Soldaten, verblasste, er war wieder im vorweihnachtlichen England, Holmes neben ihn, in dessen schmalen Gesicht sich nun ein Anflug von Sorge abzeichnete. Und mit einem leisen, überraschten Schrei riss es den schlaksigen Mann von den Füßen, als Watson sich ohne jegliche Vorwarnung auf ihn warf und im nächsten Moment lagen Detektiv und Militärarzt auf dem schneebedeckten Boden, wo Watson sich sogleich daran machte, seinen besten Freund mit Schnee einzuseifen. "WATSON!" "Rache ist wahrhaftig süß, Holmes..." "Das kitzelt... Aufhören!" Kichernd lag der Detektiv unter ihm und bewegte wie aus einem Reflex heraus die Hand Richtung Mund, als wolle er dieses Zeichen der Menschlichkeit in ihm verbergen, ließ die Hand allerdings auf halber Strecke sinken und so lag sie reglos neben ihn im Schnee. Watson hatte seinen Freund selten lachen gehört, aber jedes einzelne Mal ließ es einen ungewollten Hauch von Menschlichkeit durch seine kühle Fassade scheinen, zeigte eine Gemeinsamkeit, eine Art Verbindung zu seinen Mitmenschen die er stetig zu verstecken versuchte wie einen unschönen Makel. Diese seltenen Momente in denen Sherlock Holmes sich doch erlaubte, einfach Mensch zu sein, und nicht die kühle berechnende Maschine oder Scotland Yards Maskottchen. Watson hatte sich angewöhnt diese kleinen Momente zu genießen und zu seiner Freude hatte er bemerkt, dass diese in seiner Gegenwart immer häufiger vorkamen. Er spürte den Körper seines Freundes vor stummen Lachens unter ihm beben, sah das Glitzern in den dunklen klugen Augen, die nun eine beinahe kindliche Unbeschwertheit auszustrahlen schienen. Diese plötzliche Änderung in der Mimik von Holmes faszinierte ihn so sehr, dass er für einen kurzen Augenblick alle Vorsicht außer Acht ließ. Einen Augenblick, den der Detektiv nutzte um ihre Rollen zu vertauschen und Watson mit solch einer Kraft zu Boden zu drücken, die man den zwar großgewachsenen aber doch sehr schlaksigen Mann gar nicht zugetraut hätte. Watson wäre nicht der erste gewesen, der den Fehler gemacht hätte, Holmes zu unterschätzen... Aber wer würde ihn sowas auch zutrauen, wenn er ihn so wie Watson in diesem Moment, so befreit und unbeschwert, erleben würde? "Sie neigen zur Unvorsichtigkeit, alter Bursche!" Eine plötzliche, angenehme Wärme breitete sich in den ehemaligen Militärarzt aus als er das, trotz dieser Worte, freundliche und wohlgesinnte Gesicht seines Freundes nur einige Zentimeter über seinem eigenen schweben sah, eine Wärme die ihm vertraut war. Eine behagliche, innere Wärme, die, wie er wusste, nur sein Freund in ihm ausgelöst haben konnte. Ohne Recht zu wissen, warum , erwiderte er das ihm angebotene Lächeln, blickten in die Augen, die normalerweise überlegen blitzten, doch ihn nun mit solcher Aufrichtigkeit musterten, dass er seine vorige Verdrießlichkeit komplett vergaß, ließ es zu, dass dieses Gefühl der Geborgenheit und Zuneigung ihn einhüllte und ihm guttat wie eine warme Decke an einem Septembermorgen. Holmes' Körper war dicht an seinen gedrängt, er spürte dessen Körperwärme und dessen ruhig schlagendes Herz, von dem Leute, die ihn nicht kannten, immer wieder behaupteten, dass er es nicht hätte. Doch er hatte eines, eines, das immer wieder in einen Konflikt mit seinen genialen Verstand geriet. Denn der Verstand hatte Angst, von dem was das Herz wollte. Das es okay war, Angst zu haben, Mensch zu sein und Fehler zu machen und Makel zu haben, dass er eben jeden dieser kleine Makel und Momente der Schwäche, in denen das Herz über den Verstand siegte, so abgöttisch liebte, versuchte Watson in diesem einen Kuss zum Ausdruck zu bringen. An dieses Zeichen des Verständnisses, des Trostes, schien Holmes sich zu klammern, wie ein Ertrinkender an einen Baumstumpf. Seine Hände krallten sich in den nun komplett durchnässten Mantel des anderen, und doch dachten beiden Männer nicht daran, den Kuss zu lösen. Das erste Mal ließen sie keine Vorsicht walten und zeigten dem anderen, in einer Sprache, die jeder zu verstehen vermochte, wie sehr er geliebt und geschätzt wurde. Eine Liebesbekundung, von der niemand erfahren würde. Die einzigen Zeugen waren ein paar Schneeflocken, die vom dunklen Himmel rieselten, aber sie würden Schweigen. Schweigen über die Momente der Schwäche von Sherlock Holmes, in denen das Herz über den Kopf siegt und in denen er zu einem Menschen wie jeder andere wird.

Ein Mensch der von ganzen Herzen liebt und geliebt wird

Holmes/Watson OneShotsWhere stories live. Discover now