Prolog

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„Mutter?"

Der Junge kroch zu der großen Frau, die reglos im Sand lag und die zerschlissene Decke bis unters Kinn gezogen hatte. Im Licht der aufgehenden Sonne schimmerte ihr Haar rötlich braun. Noch waren sie angenehm, diese ersten Strahlen des Tages, die zaghaft über die Dünen kletterten und lediglich einen kleinen Vorgeschmack auf das boten, was folgen würde: sengende, mörderische Hitze. Auf dem Gesicht seiner Mutter hatte sie deutliche Spuren hinterlassen. Die einstmals helle Haut war krebsrot und löste sich an Kinn und Stirn, als hätte jemand versucht, sie mit dem Messer abzuschaben. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, stille Zeugen der Strapazen, denen sie in den letzten Tagen ausgesetzt gewesen waren.

Als er seine Mutter so sah, hielt er es nicht länger aus. Er nahm seinen Wasserschlauch, träufelte ein wenig von der Flüssigkeit auf ein Tuch und benetzte ihre aufgesprungenen Lippen damit. Er wusste, dass das töricht war. Jeder hatte seinen eigenen Wasservorrat, den er sich genau einteilen musste. Seine Mutter aber hatte ihren schon aufgebraucht. Er konnte sie doch nicht verdursten lassen! Beklommen sah er dabei zu, wie die Tropfen in ihrem Mund verschwanden.

Ihre Lider blieben geschlossen. Die feinen Äderchen darauf glänzten in der Morgensonne in einem zarten Blau, die langen Wimpern golden. Der kleine Junge schob die Decke ein Stück zur Seite und ergriff ihre Hand. Sie war zart und zerbrechlich. Die Haut spannte sich so stark über den Knochen, dass diese wie das dünne Geäst eines kahlen Baumes hervortraten. Vor allen Dingen war sie eiskalt. Der Junge legte sich neben sie, schmiegte sich dicht an ihren starren Körper, um sie zu wärmen und klammerte sich an ihre Hand wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz.  Es war ihm, als wäre eine gigantische Welle über seinem Kopf zusammengebrochen, fest entschlossen, ihn in die nachtschwarze Tiefe zu reißen.

Diese Welle war nicht überraschend gekommen. Schon längst vor ihrer Flucht hatte sie sich aufgebaut, langsam, aber unaufhaltsam. In den letzten Tagen war sie rasant gewachsen, hatte zuerst seinen Vater, dann seinen älteren Bruder und schließlich seine Mutter verschlungen. Dabei war es gar keine Welle aus Wasser, sondern aus Sand, wie dem Jungen jetzt aufging. Wie sollte in dieser lebensfeindlichen Umgebung eine Welle aus Wasser entstehen? Soweit das Auge reichte sah er nur Wüste, eine bedrückende, ganz und gar furchteinflößende Einöde, in der nichts wuchs, nichts lebte und in der sich scheinbar nichts bewegte außer dem Wind, der sich dann und wann in einen Sturm verwandelte und jene Dünen entstehen ließ, wie sie nur in einem derart trockenen Klima wie diesem Bestand haben konnten.

 Der Junge schloss die Augen und ließ seinen Tränen freien Lauf. Sie lösten sich unter seinen geschlossenen Lidern, liefen langsam über seine Wangen, bis sie in seinem Mundwinkel verschwanden und er ihren salzigen Geschmack wahrnahm. Er hätte alles dafür gegeben, noch ein letztes Mal der Stimme seiner Mutter mit dem anmutig klingenden griechischen Akzent lauschen zu können, sich an ihrem warmherzigen Lächeln zu erfreuen und sich in einer ihrer liebevollen Umarmungen in Sicherheit zu wähnen.


Die Erkenntnis, dass sie all diese Dinge nie wieder tun würde, traf ihn wie ein harter Schlag gegen die Brust, der ihm den Atem raubte. Unvermittelt riss er die Augen auf, fasste sich an die Kehle und schnappte nach Luft. Da fiel sein Blick auf das metallene Amulett, das sie an einer Lederschnur um den Hals trug. Es zeigte einen sichelförmigen Mond, der sich über einen Gott auf einem kunstvollen Thron wölbte.  Die schmale Hand des Jungen schloss sich um das Schmuckstück, das genauso kalt war wie der leblose Körper seiner Mutter.

Trotzdem hatte er das Gefühl, als könne er die Kraft, die davon ausging, spüren. Sie strömte in seinen Arm, drang in sein Inneres und erfüllte sein bleischweres Herz mit Wärme. Vielleicht war es Einbildung, aber irgendetwas ließ ihn glauben, dass seine Mutter immer bei ihm sein würde, wenn er es an sich nahm. Behutsam zog er es ihr über den Kopf und band es sich selbst um. Die Kette lag schwer um seinen Hals und reichte ihm fast bis zum Bauchnabel. Irgendwie schöpfte er Trost aus ihrem Gewicht und somit aus ihrer unverkennbaren Präsenz. Der Junge nahm den Dolch, den seine Mutter an ihrem Gürtel bei sich trug, küsste sie auf die Stirn und flüsterte mit gebrochener Stimme: „Leb wohl, Mutter. Vergiss mich nicht und verzeih mir, dass ich dich nicht anständig bestatten kann."

Schniefend wischte er sich die Tränen weg und erhob sich auf unsicheren Beinen. Einen Moment lang schwindelte ihm so sehr, dass er schwankte wie ein Betrunkener. Der Wasser- und Nahrungsmangel der vergangenen Tage forderte  seinen Tribut. Die quälenden Kopfschmerzen, die am Abend zuvor von ihm Besitz ergriffen hatten, machten sich wieder bemerkbar, ein schier unerträgliches Glimmen hinter den Augen, das sein Gehirn zu versengen schien. Ich sterbe, dachte er schockiert. Mutter, ich komme zu dir. Er irrte sich. Der Schwindel ließ nach, seine Sicht wurde klar und als er das Amulett berührte, wurden auch die Kopfschmerzen erträglich. Der Tod hatte ihm einen gemeinen Streich gespielt, wie so oft in letzter Zeit.

Langsam drehte sich der Junge im Kreis. Hier war ... nichts. Absolut nichts. Kein Baum, kein Strauch, kein einziger Grashalm. Nichts, woran er sich hätte orientieren können. Nur Sand, der sich im Wind kräuselte wie Wasser. Er befand sich inmitten einer toten Landschaft neben seiner toten Mutter. Er war allein, so vollkommen allein, dass er allmählich glaubte, er wäre der einzige Mensch auf der Welt, der in die tiefe Grube der Einsamkeit gestürzt war. Er durchlebte einen Augenblick würgender Panik, die ihm den Verstand zu rauben drohte. Am liebsten hätte er laut geschrien, seine Trauer, seine Angst und seine Wut in diese grauenvolle Ödnis hinausgebrüllt, doch er wusste, dass ihm dafür die Kraft fehlte. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder blieb er hier stehen und wartete, bis auch ihn der Tod holte oder er versuchte, einen Weg aus dieser Wüste zu finden.

Es schockierte ihn selbst, dass er die erste Möglichkeit in Erwägung zog. Die einfachere Wahl wäre es auf jeden Fall. Dann erinnerte er sich daran, mit welcher Beharrlichkeit, mit welch unerschütterlicher Entschlossenheit seine Mutter ihn und seine Geschwister bis hierher geführt hatte und ihm wurde klar, dass er sich für die zweite Möglichkeit entscheiden musste. Das war er ihr schuldig. Also ging er.

Verschleierter Verrat [Leseprobe]Where stories live. Discover now