2.1 I Athen

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Adad liebte es, auf dem blanken Pferderücken zu sitzen, die Wärme des Fells und die Bewegung der Muskeln zu spüren. Es vermittelte ihm ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Genau das hatte er nötig, wenn er sich in die Stadt wagte. Es mochte Einbildung sein, aber es war ihm, als werfe ihm ein jeder, dem er begegnete, herablassende Blicke zu. Man hätte meinen können, auf seiner Stirn klebe ein Stück Papyrus mit der Aufschrift: Ich bin kein Bürger. Er schalt sich selbst für diese unsinnigen Gedanken und dennoch vermochte er sie nicht zu verdrängen.

Die Blicke der Menschen fühlten sich an wie Messerstiche. Es waren heiße Stiche, weiß-glühend wie die unfertigen Werkstücke, die Schmiede aus dem Feuer zogen. Einbildung, alles Einbildung, ertönte seine innere Stimme. Du lässt dich so selten unter Menschen blicken, dass dich kaum einer kennt. Diejenigen, die wissen, wer du bist, mögen dich nicht, weil du mit unbeweglicher Miene und starrem Blick auf deinem Pferd sitzt, ohne auch nur einen einzigen dieser Bekannten zu grüßen. Auf sie wirkst du schlicht und einfach unhöflich. Nein, widersprach er in Gedanken. Sie mögen mich nicht, weil ich ein Ausländer bin.

Athen war allmählich dabei, sich von einer Ansammlung kleiner Dörfer um die Oberstadt, die Akropolis, zu einer richtigen Stadt zu entwickeln. Die Straßen waren mittlerweile befestigt, sodass die Hufe seines Pferdes Hektor nicht mehr nach jedem Ausritt voller Schlamm und Unrat waren, Handel und Handwerk begannen zu blühen, die Tempel wurden jetzt aus Kalkstein, teilweise sogar aus Marmor erbaut und nicht wie früher aus Holz. Athen war wie die Knospe einer Rose, die anfangs unscheinbar gewirkt hatte und nun mehr und mehr ihre leuchtende Pracht entfaltete. In seiner Kindheit hatte Adad Athen lieber gemocht. Während ein jeder sich an den strahlenden, duftenden Blüten erfreute, hatte Adad die schlichte und unaufdringliche Schönheit der Knospe bevorzugt. Es hatten hier weniger Menschen gelebt und die Nähe zur Natur war deutlicher spürbar gewesen.

Adad kam an den Verwaltungs- und Handelsgebäuden der Unterstadt vorbei. Gut gekleidete Athener Bürger waren hier auf den Straßen unterwegs, hauptsächlich Männer. Sie bewegten sich mit der selbstbewussten Haltung derer, die wussten, wohin sie gehörten und wo ihr Platz war, nämlich über allen Nicht-Bürgern. Die Messerstiche nahmen zu. Als Bürger Athens galt man nur, wenn beide Eltern aus dieser Stadt stammten und wenn man ein Mann war. Adad kannte seine leiblichen Eltern nicht, aber dass sie keine Griechen gewesen waren, wusste er mit ziemlicher Sicherheit.

Weil sich das Leben der vornehmen Frau hauptsächlich im Haus abspielte, sah man hier nur wenige von ihnen und wenn dann in Begleitung einer Sklavin oder einer Eskorte Bewaffneter. Adad atmete erleichtert auf, als er dieses angesehene Viertel hinter sich lassen konnte. Was sich dann vor ihm erhob, war jedoch nicht besser. Es war das Haus seiner Ziehfamilie.

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So leise wie möglich glitt Adad in die prächtige Vorhalle mit den monumentalen Säulen aus weißem Marmor und hoffte, niemandem zu begegnen. Nach den aufwühlenden Ereignissen in dem Waldstück außerhalb von Athen und dem Ritt durch die Stadt verspürte er nicht die geringste Lust, von seinem Ziehvater oder seinem Ziehbruder verspottet zu werden, weil er wie so oft den Großteil des Tages damit zugebracht hatte, in der Natur herumzustreifen und dementsprechend aussah. Sein Mantel und seine Waden waren voller Schlammspritzer, in seinem schulterlangen, rotbraunen Haar hafteten Tannennadeln und seine Schuhe hinterließen schmutzige Spuren auf dem kostbaren Boden. Insgeheim erfüllte es ihn mit einem diebischen Vergnügen, in diesem Aufzug das Haus seines peniblen Ziehvaters zu betreten und seine Schuhabdrücke auf dem blitzenden Boden zu hinterlassen.

Er grinste in sich hinein, während er seinen Weg fortsetzte. Gerade als er sich darüber freuen wollte, unbemerkt zu seinem Gemach gelangt zu sein, vernahm er eine Stimme, die ihm nur allzu vertraut war. „Adad, du kommst wie gerufen. Komm her und hilf mir beim Ankleiden."

Verschleierter Verrat [Leseprobe]Where stories live. Discover now