6 I Anthesteria

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In den nächsten Tagen bemühte er sich, Pausanias und Dropides aus dem Weg zu gehen. Tagsüber war Megakles, der alte Sklave, den Dropides hatte auspeitschen lassen, der einzige Grund, warum er das Anwesen aufsuchte. Er hatte oft mit ihm zusammen gearbeitet, weshalb ihn das, was dem Greis widerfahren war, bekümmerte.

Aspasia hatte nicht übertrieben. Sein Rücken war ein einziger, blutiger Klumpen, der von zahllosen Striemen übersät war. Die Peitsche hatte die Haut aufgerissen und sich an einigen Stellen tief in sein Fleisch gefressen. Obwohl er wusste, dass Dropides zu solchen Grausamkeiten fähig war, entsetzte es ihn bisweilen noch immer. Gemeinsam mit Megakles' Frau kümmerte er sich um ihn und behandelte seine Wunden, so gut es eben ging, wenn man kein Heiler war. Der alte Mann brauchte lange, um sich von seinen Verletzungen zu erholen, aber glücklicherweise kam er wieder auf die Beine.

Ansonsten verbrachte Adad die meiste Zeit im Wald. Selbst wenn es regnete und stürmte kehrte er erst spät in der Nacht zurück, wenn alle bereits schliefen. Er fühlte sich gedemütigt und zu Tode beleidigt. Rachegedanken beherrschten ihn von früh bis spät. Er malte sich aus, wie er seinem Ziehvater und seinem Ziehbruder die Schikanen der letzten Jahre heimzahlte und ganz besonders, wie er sich dafür rächte, dass sie ihm sein Amulett entwendet hatten. Die Gewissheit, dass es keine Möglichkeit dazu gab, stimmte ihn noch zorniger als er ohnehin schon war.

Der Frühling ließ sich Zeit in diesem Jahr. Der Winter klammerte sich hartnäckig an das Land, schickte immer wieder Regen und vereinzelte Schneefälle. Trotzdem wurden in Athen wie jedes Jahr im Monat Anthesterion die Anthesteria abgehalten, ein Fest zu Ehren des Weingottes Dionysos und zur Begrüßung des nahenden Frühlings. Am liebsten hätte sich Adad vor den dreitägigen Feiern gedrückt, indem er den Wald in dieser Zeit überhaupt nicht mehr verließ. Kurzzeitig überlegte er, ob er das tun sollte, aber es hätte bedeutet, Aspasia ganz allein auf dem Fest zu lassen. Würde er sie nicht begleiten, wäre sie allein, denn Dropides würde sicherlich keine Rücksicht auf sie nehmen und auf Pausanias war sowieso kein Verlass.

Als wollte Dionysos selbst sein Fest segnen, schien am Morgen des ersten Tages bereits die Sonne. Es war kalt, aber wenigstens war kein Regen in Sicht. Möglicherweise lag es daran, dass seine Stimmung verhältnismäßig gut war, doch am meisten freute er sich über den Anblick seiner Ziehmutter. Während eine Frau normalerweise ihr Haar geschlossen zu tragen hatte, war es an Feierlichkeiten wie diesen gestattet, sie offen zu lassen. Von diesem Recht hatte auch Aspasia Gebrauch gemacht. Die dichten Locken wallten ihr lose über die Schultern, lediglich von einem goldenen Kranz aus Eichenlaub zurückgehalten. Ein weißes, mit Stickereien versehenes Himation umschmeichelte ihren Körper und darunter blitzte ein Stück ihres ebenfalls weißen Kleides hervor. Wahrscheinlich hätte sie nur halb so schön ausgesehen, hätte ihr Gesicht nicht mit der Sonne um die Wette gestrahlt.

„Adad, ist das dein Ernst?", rief sie aus, als sie ihn sah. Sie klang ehrlich entrüstet.

„Was?"

„Deine Kleidung. Wenigstens zu Festen könntest du dir damit doch ein wenig mehr Mühe geben."

Prüfend sah er an sich hinab. Er wusste nicht, was an seinem schlichten Himation aus ungefärbter Wolle falsch sein sollte.

„Wieso? Es befinden sich immerhin keine Schlammspritzer oder Tannennadeln darauf, oder?"

Er schenkte seiner Ziehmutter ein freches Grinsen.

„Das hätte noch gefehlt! Komm jetzt, sonst verpassen wir den Umzug."

Hoch erhobenen Hauptes schritt sie voran, gefolgt von einer Schar Sklavinnen, die an diesem besonderen Tag ebenfalls an den Feierlichkeiten teilnehmen durften. Adad folgte ihr weniger begeistert. Draußen im Hof warteten die Karren, auf denen die Pithoi standen, jene Gefäße, in denen sich der Wein befand, der dort den Winter über gereift war. Er sollte zum Limnaion gebracht werden, einem Bezirk in der Nähe der Akropolis. Dort würde ein Teil des Weins Dionysos geopfert werden, damit der Gott das noch unberührte Getränk segnen konnte.

Verschleierter Verrat [Leseprobe]Where stories live. Discover now