00 Zuhause

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Ein Pfiff. 
Das ist alles was ich höre. Und das, obwohl meine Augen noch geschlossen sind und ich eigentlich auch den lauten Verkehr gleich neben mir wahrnehmen sollte.
Jedes normale Ohr könnte bei einer solchen Lautstärke nicht schlafen.
Ich dagegen habe das die letzten fünf Stunden. 

Bis zu dem Pfiff. 

Langsam öffne ich meine müden Augen und blinzele in die klare Morgensonne von Sokovia. Hier, wo Berge die Sicht auf den Horizont erschweren und es immer eine Wolke am Himmel gibt, sind die Sonnenaufgänge am schönsten. 
Und ich muss es wissen, schließlich habe ich immer den besten Aussichtspunkt. 

Sowie jetzt: Ich liege auf dem flachen Dach eines Hochhauses. Meinen Rucksack nutze ich als Kissen, meine zweite Jacke als Decke.
Einen Augenblick lang starre ich geradewegs in das helle Licht hinein, welches meine Umgebung in einen beinahe magischen Schein taucht. 
Aber nur beinahe. 
Die Magie wird dort gebrochen, wo die Sonnenstrahlen auf zersprengten Stein und Trümmer treffen. Dort, wo die Stadt ihre hässlichen Seiten offenbart. 

Hier herauszukommen ist einfach: Die meisten Häuser haben keine gute Alarmanlage, geschweige denn robuste Türen und Hintereingänge. 
Sokovia macht es mir nur allzu leicht, einen Schlafplatz zu finden. Es ist fast so, als wollte die Stadt, dass ich nicht unter die Räder gerate. 

Ein zweiter Pfiff ertönt. 
Lauter und energischer als der Erste. 
Genervt verdrehe ich die Augen und rappele mich hoch. 
Auf meiner Hand sind die Abdrücke von den Kieselsteinen, die auf dem Dach verteilt sind. 
Ich schwinge meine Tasche über die Schulter und laufe durch das Treppenhaus nach unten auf die Straße. 

Dort wartet sie schon: 
Meine Familie

Niemand von ihnen gehört zu meiner leiblichen Familie, aber an die kann ich mich sowie so nicht mehr erinnern. 
Und sie ersetzten eine Echte, so gut sie eben können. 
Und darinnen sind sie wirklich gut: Schließlich teilt jeder von ihnen ein ähnliches Schicksal wie ich:
Straßenkinder aus Sokovia. Ohne Zuhause und ohne Eltern, welche auf sie warten könnten.

Tess ist die erste, die etwas sagt. 
-Sie ist etwa in meinem Alter, und trotzdem etwas kleiner als ich. Ihre Haut ist dunkel und übersät von Tattoos. 
Ihre Haare trägt sie zu Dreadlocks gemacht in einem hohen Zopf, so kommt ihr hübsches Gesicht besser zur Geltung.
"Guten Morgen Hell" sie lächelt. Das tut sie normalerweise kaum. 
"Sieh mal, das hat Max mir gestochen" 
Ich hätte mir denken müssen dass sie ein neues Tattoo hat. Darüber freut sie sich immer.

Max ist unser Tätowierer in der Stadt: Er tatöwiert absolut jeden der ihn darum bittet und verschenkt zudem noch Essen und Trinken, was er von dem Geld kauft, was er damit verdient. 
Tess ist seine Stammkundin. 

"Zeig mal her" bitte ich. 
Sie hält mir ihren nackten Arm hin und deutet auf ihre Armbeuge. 
Meine Augen fliegen über ein Herz an ihrer Pulsader und einen einfachen Kreis gleich darunter bis ich das neue Tattoo entdecke: 
Es sind die wohl bekanntesten Umrisse, die ich kenne: 
Die Silhouette von  Wanda Maximoff, ist mit roter Tinte unter ihrer Haut verewigt. 

Ich reiße die Augen auf. 
"Toll was?" grinst sie. 
"Maximoff unter deiner Haut? Krass!" 
"Aber sowas von" 
Die Maximoffs sind hier sowas wie Helden: Sie waren die ersten, die auf die Straße gegangen sind, nachdem die Bomben gefallen sind. 
Waren die, die bei den gefährlichsten Aktionen dabei waren. 
Und die, die die lautesten Stimmen auf Demos hatten. 
Und dann sind sie verschwunden. 
Von einen Tag auf den anderen hatte niemand mehr etwas von den berühmtesten Zwillingen gehört, die die Straßen von Sokovia je hatten. 

"Ihr feiert sie wie eine Heldin. Dabei war sie nie mehr als wir alle hier" murrt Chris. 
Ich verstehe nicht wie Tess es mit ihm als Freund aushält. 
Er ist arrogant, hochmütig und hat die schlechte Eigenschaft sich in Dinge einzumischen die ihn absolut nichts angehen. 
"Ich wette ihre Leiche vertrocknet im Keller von irgendeiner Gang hier" sagt er großspurig. 
"Entschuldige mal" wendet Tess selbst ein. "Das nächste mal wenn ich jemanden hier auf der Straße sehe, frage ich ihm, ob er schonmal was vom legendären Christ aus Sokovia gehört hat. Mal sehen was er antwortet" über ihre Lippen tanzt ein kleines Lächeln. 

"Leck mich" Chris verdreht die Augen und Tess stößt ihm ihren Ellenbogen in die Hüfte.
Bevor die beiden ihren Streit weiter vertiefen können geht Liz zwischen die beiden. 
"So, wo wir doch komplett sind, können wir los zur Demo, oder nicht?" 
"Demo?" wiederhole ich.
Ehe Liz, welche mit ihren zwölf Jahren die jüngste ist, antworten kann fällt ihr Eight ins Wort. 
Wie Eight wirklich heißt weiß niemand in ganz Sokovia, wir nennen ihn so, wegen der Narbe an seinem Kinn, welche die Form einer acht hat. 


"Ja, die ist unangekündigt und es soll wohl auch ziemlich wild hergehen. Ich denke es ist besser wenn Liz mit irgendwem hier bleibt" 
"Bestimmt nicht!" protestiert diese sofort. "Ich bleibe nicht wieder hier um dann das Beste zu verpassen!" 
"Ich finde Eight hat recht. Liz ist noch zu jung um in wirklichen Ärger verwickelt zu werden" stimmt auch Nicky zu. 
Er ist siebzehn, also ein wenig älter als ich und Tess. 
Er war wohl eine Zeit lang so etwas wie mein Freund aber ich denke, ich hatte nie ernsthafte Gefühle für jemanden wie ihn. Und das könnte ich auch nicht. 
Eines kann man ihm aber nicht abschlagen: Er sieht verdammt gut aus, mit seinen braunen Haaren und den klaren, blauen Augen. 

"Ihr seid nicht meine Eltern!" ruft Liz. "Ich komme mit, ob es euch nun interessiert oder nicht!" 
Eight verdreht genervt die Augen. 
"Gut. Aber du bleibst bei mir! Die ganze Demo über! Verstanden?" 
"Von mir aus" sie hört sich fast schon genervter an, als Eight selbst. 

Also ist es beschlossene Sache und wir machen uns auf den Weg zu dem Platz, für den die Demo angesagt ist. 
Auf dem Weg packen wir unsere roten Bandanas aus. Die trägt jeder, der auf eine solche Demo geht. 
Sie repräsentieren das Blut von denen, die bei den Bombenangriffen gestorben sind. 

Auch die Maximoffs haben sie getragen. 
Wanda, die Schwester der beiden -sie müsste heute etwa achtzehn sein- hatte es um ihr Handgelenk gewickelt sowie ich, Tess und Chris es auch machen. 

Alle anderen tragen es lieber wie Pietro. Der Ältere. 
Er hatte es sich um die untere Hälfte seines Gesichts gebunden, um das Tränengas nichts ganz so schnell einzuatmen, wenn es zum Notfall kam. 
Außerdem machte es ihm möglich auf Fotos unerkannt zu bleiben. 
So tragen alle anderen ihre. 

Ich weiß noch, als die Zwilling verschwanden, hinterließen sie eine Frage, welcher niemand in Sokovia je beantworten konnte: 
Wer würde es sein, der als nächstes die Stimme von Sokovia wird? 
Wer wäre jemals so mutig und stark wie sie es waren? 

Ich kenne die Antwort? 

Wir werden es sein. 

wanda II die for youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt