Ich erreichte das Esszimmer und lehnte die Tür hinter mir nur an, da ich wusste, dass sie beim Schließen ein recht lautes Geräusch machte, als ob ein Pferd auf der Stelle trabte.
Ich hörte ihn schon von hier leise schluchzen, er versuchte es zu unterdrücken, aber ich hörte es.
Darin war ich geübt.
Ich entschloss mich dazu, etwas zu Essen aus der Küche mitzunehmen, auch wenn ich gar keinen Hunger hatte und wir eigentlich auch nach zehn Uhr morgens nichts mehr aßen. Ich entschied mich für die Cornflakes und versuchte die Packung so leise wie möglich die Wendeltreppe hoch zu bugsieren.
Wren Otis lag, die Füße aufdem Kopfkissen, in seinem Bett, das Gesicht tief in seiner Matratze vergraben.Ich blieb auf der vorletzten Stufe stehen und klopfte auf die letzte Holzstufe.
Er fuhr hoch.
Ich hatte Recht gehabt, sein Gesicht war gerötet und vom Weinenfeucht, sein Brustkorb zog sich unregelmäßig zusammen. Ich blieb erst einmalauf der letzten Stufe stehen, denn dieser Anblick irritierte mich.
Wren Otis warnicht viel anders als Tom mit mir umgegangen. Ich hatte bisher gedacht, ihn ließe das alles völligkalt.
Er hatte den ersten Schock überwunden, dann wandte er sich schnell ab undwischte sich hektisch durchs Gesicht. „ Was... machst du hier ?"
Das fragte ichmich ja auch.
Ich war stinksauer auf ihn, aber ich wollte wissen, warum er dasgetan hatte. Und ich wollte nicht, dass er so weinen musste, denn ich hatteauch so weinen müssen.
„ Keine Ahnung", gestand ich also und ließ mich auf derletzten Stufe nieder. Otis schniefte und schien seine Atmung um jeden Preisunter Kontrolle bringen zu wollen.
„ DU hasst mich sicherlich." Meinte er mitbrüchiger Stimme . Wieder sog er scharf die Luft ein. War das denn wahr ? Hasste ich ihn ? Er hatte mich alleine stehen lassen, ja. Aber ihn hassen ?
„Warum hast du mich zurückgelassen? Du wusstest, dass sie kommen, du wusstest,dass ich nichts dagegen tun könnte."
Verzweifelt begann er wieder nach Luft zuschnappen und schmiss sich mit dem Gesicht voran in sein Kissen. Er trommeltemit den Fäusten auf die marode Matratze ein. Er tat mir unheimlich Leid. Ich, alsleicht zu beeindruckender Mensch, vergaß für einen Moment, was ich wegen ihm hattedurchmachen müssen.
Ich stand auf und ließ mich auf der Seite nieder, dieeigentlich meine war.
Otis schluchzte immer noch kläglich vor sich hin. Erdachte wohl, ich würde irgendwann gehen, doch ich wusste, dass ich nicht gehenkonnte, bevor er es mir nicht erklärt hatte.
„ Wren." Bat ich ihn noch einmalin sanftem Tonfall.
„ Erklär es mir." Er drehte den Kopf zur Seite und sah michfür einen kurzen Moment an. Ich runzelte die Stirn. „ Ich hasse dich nichtWren. Ich will es nur verstehen." Wren setzte sich auf und dieses mal schien ersich wirklich beruhigt zu haben.
„ Wally." Sagte er dann leise. „ du darfst dasunter keinen Umständen Scott erzählen. Und nicht Annabel." Er flüstertebeinahe. Ich erkannte Schiss, wenn ich ihn sah. Und er hatte definitiv Schiss.Ich nickte heftig. „ Mach ich nicht." Otis sah mich düster an. „ Gut. Weil esmich den Hals kosten könnte." Ich schluckte. Irgendetwas ging hier schon die ganze Zeit vor sich. Wren zog die Decke zu uns hoch und ich legte mich neben ihn. Er brach die Tüte Cornflakes an und begann zu erzählen.
„ Du hast ja schon mitbekommen, dass es noch Andere da draußen gibt- nein gegeben hat. In den Letzten Jahren sind viele von uns verschwunden. Fast alle, um genau zu sein. Darunter auch... meine Eltern und meine Schwester, aber auch Scotts älterer Bruder. Sie alle sind irgendwo da draußen und schotten sich vom Rest der Welt ab. Ich habe versucht mit ihnen in Kontakt zu treten, aber Scott hat das unter keinen Umständen gewollt. Wenn er das wüsste, dann ..." er führte den Satz nicht zu Ende, aber ich wusste, das Scott immer knall hart war. Immer. Und er würde alles dafür tun, einen „Verräter" zur Strecke zu bringen.
„Ich ... wollte mich mit meiner Schwester treffen, als ich dich allein gelassen habe... ich dachte... ich wusste ja nicht:" er holte tief Luft, um nicht wieder in panisches Stottern zu verfallen. „Die Alben waren viel zu früh dran. Und Marissa kam nicht zu unserem Treffpunkt, sie war nicht da... vielleicht ist ihr was passiert, ich weiß es nicht."
Jetzt begann ich zu begreifen, wie schlimm er sich fühlte. Wir alle ignorierten ihn seit Tagen, dabei hatte er nur versucht etwas herauszufinden. Seine Familie war weg, seine Schwester war nicht aufgetaucht. Vielleicht wahren sie alle in Gefahr.
„Es tut mir so furchtbar leid, dass du leiden musstest. Das du verletzt wurdest... hätte ich das gewusst dann..." er zerknautschte die Cornflakes Tüte und es gab lauter knackende Geräusche. Ihm lief wieder eine Träne die Wange hinunter. Ich schüttelte den Kopf.
„ Es war schon....scheiße, aber... Mach das einfach nicht nochmal, ja ? Ich hatte ... Angst." Jetzt klang ich genau so jämmerlich wie immer. Otis sah mich trübe an. „ Kannst...du mir das verzeihen ? Mir... noch eine Chance geben ?"
Einen kurzen Moment meldeten sich meine Verletzungen zu Wort, doch dann nickte ich.
„ In Ordnung ." erleichtert seufzte er auf und ließ die Cornflakes Tüte wieder los. Mir kamen noch ein paar Fragen in den Sinn, die ich unbedingt stellen musste.
„ Also ihr wart mal viele und jetzt sind sie alle weg ? Weshalb ?" Wren zuckte mit den Schultern. „ Das fragen wir uns ja auch. Scott verbietet es uns, jeglichen Kontakt zu ihnen aufzunehmen... ich weiß nicht wo sie sind und was sie machen. Ich hab letztes Jahr einen Brief von meiner Schwester gekriegt, seitdem haben wir uns einmal getroffen."
In seinen Augen lag eine tiefe Traurigkeit, die ich absolut nachvollziehen konnte. „Sie wollte mir nicht sagen, wo sie sind und ob es den... den anderen denn gut geht. Als ich sie nach Scott fragte, flippte sie total aus. Dann bekam ich ihren zweiten Brief, vor ein paar Wochen, kurz bevor wir dich aufgegabelt haben. Sie wollte sich bei unserem nächsten Ausflug mit mir treffen... aber ich durfte nicht mit, deshalb hab ich auch gefehlt, als die anderen dich gefunden haben:"
„ Warum durftest du nicht mit ?" fragte ich verwirrt. Otis zuckte wieder mit den Schultern. „ Aus Scott kriegt man nichts raus. Und Annabel ... ach keine Ahnung, die ist schon immer anstrengend, die würde mir sowas auch nicht sagen." Ich nickte bedenklich. Mir war schon oft aufgefallen, dass, abgesehen von den letzten drei Tagen, Otis eine Sonderbehandlung genoss. Ich war zwar neu und anscheinend ein Naturtalent in dieser Angelegenheit, aber Otis wurde ebenfalls überwacht und kontrolliert. Scott forderte ihn ziemlich und war nicht einmal im annähernden so nett zu ihm gewesen, wie zu mir.
„warum... ist Scott eigentlich immer so grob zu dir?" Wren schnaubte verächtlich und knautschte erneut die Cornflakes Tüte zu Tode. „ Keine Ahnung... er hat irgendwas gegen mich. Aber man kann nicht mit ihm drüber reden... ich war ganz erstaunt, als er dich hierherbrachte, wie nett er da war... so war er vorher nie."
„Und jetzt ist er immer noch im Vergleich zu anderen Leuten nicht nett." Meinte ich zustimmend. Ich legte den Kopf schief. „ Vertraust du ihm ?"
Wren fing meinen zweifelnden Blick auf und schluckte. „ Keine Ahnung. Einerseits hat er mir schon tausende Male das Leben gerettet... aber das ist alles ziemlich faul. Ich war noch nie in seinem Zimmer ! Annabel auch nicht ! Er verheimlicht uns manchmal große Dinge und plötzlich erfährst du davon und dass er es schon die ganze zeit über wusste ! Das finde ich gruselig:"
Das war gruselig. Ich wurde auch aus ihm nicht schlaue und ich wusste, was Otis meinte. Was aus mir geworden wäre, ohne ihn, als mich die Alben angriffen, das weiß ich nicht. Wenn er mich nicht geheilt hätte, dann .... wären die Bisse noch schlimmer geworden... aber zum Anderen erklärte er mir immer nur so viel, wie ich wirklich wissen musste.
„Meinst du , ich soll ihn mal nach den Anderen fragen ? Immerhin mag er mich wirklich..." Wren seufzte. „Du kannst es versuchen, wenn du willst. Tu dir keinen Zwang an." Ich schüttelte den Kopf. „ Ich will... einfach wissen, was los ist:"
Ich war neugierig geworden.
Und das würde Scott nur all zu sehr zu spüren bekommen.
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Wally Beckett und die Traumjäger
FantasyDer elfjährige Wally Beckett aus Pennsylvania ist ein bisschen anders. Er sieht Dinge, die andere nicht sehen oder auch gar nicht sehen wollen. Als er dann einen grausamen Mord auf dem Jahrmarkt mit ansehen muss und dann auch noch aus seinem eigenen...