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Manon schlief schlecht. Sie träumte von dem Psychiater zu dem ihre Mutter sie vor ein paar Monaten geschickt hatte. Doch diesmal war er nicht so freundlich, wie damals. "Du bist asozial!" , sagte er ihr mitten ins Gesicht und spuckte dabei leicht, "Du bist unnormal und total verklemmt! Du bist ein Angsthase!". Manon zitterte im Schlaf und klammerte sich an ihre Bettdecke. "Du bist krank!", schrie der Arzt sie an. Er sah nun nicht länger aus wie der freundliche ältere Herr, den sie kannte. Sein Gesicht war verzerrt und voller Abscheu. Er zog eine große Spritze unter seinem weißen Kittel hervor. Die Spritze näherte sich Manons Kopf. Sie schrie. Dann wachte sie auf.

Eine Weile lang starrte sie an die schwarze Decke über ihr, versuchte sich zu beruhigen und wieder normal zu atmen. Immer und immer wieder hallten die Worte des Traum-Doktors in ihrem Kopf wieder. "Du bist verklemmt, unnormal, krank!"

Sie wusste, dass das nicht die Worte des echten Psychiaters waren. Der echte hatte sie freundlich darauf hingewiesen, dass Manon unter einer leichten sozialen Störung litt, die es ihr schwerer machte mit fremden Menschen zu agieren und ihnen Vertrauen zu schenken. Es sei kein schwerwiegendes Problem und man müsse es nicht unbedingt behandeln, außer Manon würde das wollen. Sie hatte es nicht gewollt, auch weil es ihr damals in München noch wirklich gut ging in ihrem bekannten Umfeld. Jetzt wo sie umgezogen waren war es schlimmer geworden. Manon hatte sich schon öfter Gedanken darüber gemacht, ob das, was der Traum-Doktor ihr nun wieder vorgeworfen hatte stimmte. War sie wirklich krank?

Ann hatte nun schon zwei Mal versucht sie zu überreden doch noch einmal zum Psychiater zu gehen um einfach mal zu sehen, ob es ihr half. Manon hatte abgelehnt. Sie brauchte den Doktor nicht hatte sie gesagt. Jetzt, als sie schlaflos an ihre dunkle Decke starrte war sie sich da nicht mehr so sicher. Sie erinnerte sich an die schönen Abende in München an denen Kate sie überredet hatte mit ihr aus zu gehen. Sie waren Tanzen gegangen oder ins Kino. Manchmal allein, manchmal mit mehreren Freunden zusammen. Es war schön gewesen. Doch mit Kate war auch Manons Bindung an die Außenwelt verschwunden. Zurück blieben nur die Erinnerungen und nachts die Stimme in Manons Kopf, die ihr sagte, dass sie verklemmt sei.

Doch so würde es nicht weiter gehen, beschloss Manon diesmal. Sie würde sich nicht wieder von sich selbst unter kriegen lassen. Manon beschloss ins soziale Leben zurück zu kehren, so blöd das auch klang. Sie würde sich zusammenreißen, München zwar nicht vergessen, und doch akzeptieren, dass diese Zeit vorbei war und sich hier neue Kontakte suchen. Das versprach sie sich immer und immer wieder, bis sie wieder einschlief.

Am Morgen war Manon ganz beschwingt. Sie würde starten, gleich heute. Der erste Punkt auf ihrer imaginären Aufbruchs-To-Do-Liste würde sich gleich nach dem Frühstück erledigen lassen. In der Küche traf sie auf Al und ihren Vater. Die beiden verwickelten sie in ein Gespräch, doch sie hatte sich vorgenommen schnell zu frühstücken. "Entschuldigung Papa, ich muss jetzt wirklich los.", verabschiedete sie sich mitten im Gespräch und stand auf. "Was ist denn so wichtig,Manon? Du bist schon die ganze Zeit so anders.", fragte Achim neugierig. "Ich rufe jetzt Kate an.", sagte Manon entschlossen. Sie schnappte sich das Telefon, dann verzog sie sich in ihr Zimmer. Achim sah ihr nur verwundert nach, doch Al grinste aus unerfindlichen Gründen.

Manon saß auf ihrem Bett und wartete, dass jemand anderes kam und die grüne Taste an ihrer Stelle drückte. Ihr erster Tatendrang verließ sie langsam. Nein. Sie würde das durchziehen zwang sie sich und drückte. Tut...tut...tut...tut... es dauerte. Manon wurde zusehens nervöser. Endlich meldete sich eine vertraute Stimme.

"Kate Sommer, hallo?" Allein der Klang ihrer Stimme ließ Manon lächeln. Trotz ihrer Aufregung. "Hi, Kate. Ich bin es.", sagte sie. Dann sprudelte es aus ihr heraus, "Kate, es tut mir so leid, dass wir umgezogen sind und dass ich mich nicht mehr gemeldet habe und dass ich nicht mit dir die Schwarzgurt Prüfung machen konnte und dass ich so eine doofe Ziege bin und einfach gegangen bin ohne mich zu verabschieden. Du bist meine beste Freundin, aber das bin ich nicht wert! Ich habe dich doch gar nicht verdient und ich kann es total verstehen, wenn du nicht mehr mit mir reden willst ich wollte dir das nur noch mal sagen. Ich vermisse dich total! Dich und München und mein Leben überhaupt. Eigentlich unser Leben, wir waren ja immer zusammen. Mensch Kate es tut mir so leid!", Manon sagte nichts mehr, denn sie hatte nichts mehr zu sagen. Jetzt war es an Kate sie an zu schreien, oder auf zu legen.

Doch Kate tat nichts von beidem. Sie schrie nicht und sie legte auch nicht auf. Es klang eher so, als wäre sie den Tränen nahe. "Nein mir tut es leid! Ich wusste doch, dass es dir nicht gut geht und trotzdem habe ich nur an mich gedacht und an die versäumte Gürtelprüfung. Ich hätte mich zusammenreißen und wieder mit dir reden sollen! Ich hätte mich trauen sollen dich an zu rufen. Ich saß so oft vor dem Telefon und habe mich dann doch nicht getraut aus Angst dich dann für immer zu verlieren. Aus Angst von dir nur zu hören, dass du mich hasst, weil ich nicht da war, als du mich brauchtest. Ich habe dich so vermisst Manon! Ich habe sogar vermisst, wie du mich immer mit Mathe vollgequatscht hast.", sie lachte kurz auf, "Bitte Manon, quatsche mich für den Rest meines Lebens mit Mathe voll! Ich brauche das. Ich brauche dich." Eine kurze Stille trat ein in der Manon ihr Glück kaum fassen konnte. "Komm schon Manon, erzähl.", bat Kate sie dann und Manon erzählte. Sie konnte gar nicht mehr aufhören. Sie erzählte von den neuen Lehrern, von den neuen Mitschülern, vom Modulo Rechnen, von Noah und sogar von Alins Bett und Till. Kate hörte zu. Das konnte sie, wie kein anderer, den Manon kannte. Dann bat Manon Kate von München zu erzählen. Sie erzählten, lachten und lästerten stundenlang. Dann nahmen sie sich gegenseitig das Versprechen ab spätestens am nächsten Wochenende wieder zu telefonieren. Kate überredete Manon außerdem ihr zu versprechen sich Mühe zu geben neue Kontakte zu knüpfen und nett zu Noah zu sein ("Das ist ja abgefahren mit Briefen. Halt dir den ja bei der Stange, der wird noch dein fester Freund!"). Manon hatte zwar die Augen verdreht, was Kate trotz Telefon gemerkt hatte, doch Kate war bei ihrer Meinung geblieben. So war sie nun mal. Zudem wollte Kate zum Schluss noch mal Alin sprechen, doch das war nichts neues. Kate war ganz vernarrt in Manons kleinen Bruder. Fast so sehr wie Manon selbst. Sie verabschiedeten sich überschwänglich, dann gab Manon das Telefon an Alin weiter.

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