Kapitel 30

2.5K 193 11
                                    

Verdammt, verdammt, verdammt! Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein?! Sie hatte ganz unbewusst nach ihm gerufen, als sie ihn auf dem Schiff gesehen hatte. Ihr Herz schlug so stark in ihrer Brust, dass sie glaubte, es würde gleich hinausspringen. Es war genau wie damals. Schon von weitem hatte sich den Rauch gerochen, die winzigen Glutstückchen gesehen, die scheinbar unschuldig durch die Luft schwebten, aber Vorboten eines Unheils waren. Schwarz-weiße Bilder blitzen über Cassandras Sichtfeld, als sie durch den Wald rannte. Das Haus ihrer Kindheit, von den Flammen verschlungen. Die Feuerwehrleute, die sich gegenseitig Befehle zuriefen und mit ihren Wasserkanonen versuchten, die Lage in den Griff zu bekommen.

Sie hatte mit dem Mietwagen abseits der Landstraße geparkt, denn das große zweistöckige Blockhaus lag weit ab von allem und jedem. Ihr Vater hatte gesagt, es sei von seinem Großvater erbaut worden. Cassandra konnte noch jedes Möbelstück benennen, welche im Haus verteilt waren. Jeder Sessel, jeder Tisch, ja, sogar jede Tasse und Geschirrtuch. Es war ihr Refugium gewesen, für sie, für ihren Bruder und für ihre Schwester. Ihr Zuhause. Bis zu ihrem sechzehnten Geburtstag war es ihr Zuhause. Doch dann hatte sich alles geändert. Die Ereignisse waren so grausam und schrecklich.

Danach hatte sie ihr Elternhaus verlassen und mit ihren Ersparnissen sich bei einer weit entfernten Uni um ein Stipendium beworben. Schon länger war es ihr Traum gewesen Ärztin gewesen und nun hatte sie die Möglichkeit diesen wahr werden zu lassen. Zwei Jahre lang hatte Cassandra keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie gehabt, bis dieser Brief kam, wo sie sie baten, zurückzukommen. Sie wusste immer noch nicht, warum sie sich in das Flugzeug gesetzt hatte. Als sie jedoch dort ankam, wurde ihr Herz in zwei Teile gerissen. Das große Haus ihrer Familie stand in Flammen. Sie wusste, dass ihre Eltern und ihr Bruder noch da drinnen waren, so handelte sie sofort. Ein Feuerwehrmann hatte noch versucht sie aufzuhalten, als sie auf das Haus zulief, aber das konnte sie nicht bremsen. Damals ging einfach alles viel zu schnell. Sie war noch vielleicht zehn Meter von dem Brand entfernt, als es plötzlich explodierte. Eine mächtige Druckwelle riss Cassandra von den Füßen und katapultierte sie hinfort. Ein harter Baumstamm stoppte ihren Aufprall und sie schlug solch den Kopf an. Danach wusste sie nur noch, dass sie im Krankenhaus aufwachte und ihr die Beamten erzählten, was passiert gewesen war. Sie war schon wieder innerlich zerbrochen. Als ihre Schwester gestorben war und nun nach dem Verlust ihrer Familie konnte sie nie mehr die Selbe sein. Ein dunkler Schleier hatte sich über ihr Herz gelegt und es unempfänglich für jede Art von Gefühlen gemacht. Cassandra lebte nur noch wie ein Schatten.

Aber etwas hatte sich geändert. Etwas hatte ihr Inneres berührt und ihr totes Herz wieder zum Schlagen gebracht. Oder besser gesagt, jemand. Es war nur eine kurze Zeit vergangen, seitdem sie in dieser fremden Welt angekommen war, aber die vielen Gefühle, die durch ihren Körper schossen, machten ihr alles deutlich. Sie empfand etwas für Hraerek. Sie konnte diesem Gefühl noch keinen Namen geben, wusste aber mit Sicherheit, dass es keine Banaliät war, sonst würde ihr sie keine Gänsehaut bekommen, wenn er in ihrer Nähe war.

Und nun wiederholte es sich. Erneut war einer ihrer Liebsten in Gefahr, nur konnte sie jetzt etwas tun!

Alles ging einfach so schnell. Sie hatte nicht lange nachgedacht, als sie sah, wie dieser feige Mistkerl mit seinem Schwert fast Hraereks Gesicht in zwei Teile schlug. Cassandra wusste nur noch, dass sie den Griff von Erienthes nahm und mit einem kräftigen Hieb seinen Kopf von den Schultern trennte. Das vertraute Geräusch von zersplitterten Knochen hallte durch ihre Ohren und machte sie taub gegenüber allem anderen.

Mit beiden Füßen stand Cassandra wieder auf dem unebenen Holzdeck und bedeckte Mund und Nase mit ihrem Tuch, damit sie den Qualm nicht einatmete. Doch Hraereks Anblick traf sie bis ins Mark. Wie ein gefallener Riese kniete er vor ihr, eine zerbrochene Axt noch in der Hand. Er hatte mutig gekämpft, ohne Zweifel. Sie fiel vor ihm auf die Knie und berührte vorsichtig sein Gesicht. Sofort verkrampfte sich alles vor Schmerz. Die klaffende Wunde auf seiner rechten Gesichtshälfte sah übel aus, sogar richtig übel. Um die kleinere Wunde auf seiner Brust machte sie sich momentan keine Gedanken. Der Schnitt war nicht tief, aber er verlor immer noch Blut. Sie musste ihn aus der Gefahrenzone bringen und operieren, sonst würde er sterben. Sie betete leise gen Himmel, dass die Zeit ausreichen würde.

Northern LegendsWhere stories live. Discover now