Kapitel 51

2.1K 160 11
                                    

Gab es wirklich einen Gott? Cassandra hatte nie darüber nachgedacht, war sie doch in einem anderen Glauben erzogen worden. Oder war es einfach Karma? Dass sie sich im Glück gesonnt und in Hraereks Armen liegen durfte, ohne an die Konsequenzen zu denken? Wenn sie diese Momente erleben durfte, verlangte dann das Universum nach einer genauso intensiven Gegenleistung? Mit Trauer, Schmerz und Wut?

Manchmal war das Universum echt ein Ar*chloch! Cassandra hatte genug von dieser Untätigkeit. Der Streit mit Hraerek am Morgen war nicht geplant und hatte ihrer angeknacksten Hülle noch den Rest gegeben. Sie war zerbrochen, erneut. Ihr Herz lag nur noch in Trümmerstücken in ihrer Brust.

Seit ihrer Rückkehr erledigte sie die zahlreichen Aufgaben mechanisch, sprach keine Wort und antwortete, wenn es sein musste, nur einsilbig. Nichtsdestotrotz konnte sie damit nicht ihre Liebsten bestrafen, die ihr so viel Wärme zurückgaben. Auf die nicht beantwortete Frage Hildas, wie es mit Hraerek gelaufen war, hatte sie keine weiteren gestellt. Sie hatte nur genickt und gefragt, ob sie helfen könne.

Syth sprach gar nicht mehr. Entweder sie schlief oder sie weinte. Die Tränen benetzten immer ihre Wangen, wenn Cassandra ihre Verbände wechselte oder sie wusch. Währenddessen empfing sie keine Kunden. Hilda nahm ihr jegliche Arbeit ab, damit sie sich voll und ganz auf Syth konzentrieren konnte. Manchen Patienten gefiel das nicht so besonders.

"Was soll das? Ich bin extra gekommen, um mich von der Wunderheilerin behandeln zu lassen. Mein Rücken schmerzt mich schon seit langer Zeit und man sagte, sie könne jeden heilen."

Eine Dame in den Vierzigern krächzte schon den ganzen Tag herum, dass sie endlich untersucht werden wollte.

"Nun mal mit der Ruhe, Frau Ranulfson. Ich habe Euch bereits gesagt, dass Cassandra im Moment keine Zeit hat. Ich werde mich gerne Eurer annehmen."

"Mit Verlaub, Hilda, aber du konntest mir das letzte Mal auch nicht weiterhelfen. Was soll der Unsinn, dass sie keine Zeit hat? Ich zahle gut und erwarte eine dementsprechende Behandlung, damit mir der Rücken nicht mehr schmerzt."

Cassandras Nervenkostum war ohnehin nicht mehr das stabilste und die Krähe vorne, die mit ihrer unnatürlich schrillen Stimme ihr Trommelfell malträtierte, brachte dabei keine Besserung. Sie wollte nicht, dass Syth wieder aufwachte, wo sie ewig gebraucht hatte, damit die Kleine einschlief.

"Ist schon gut, Hilda."

Sie trat aus dem pivaten Hinterzimmer und baute sich vor der Krähe auf. Die ältere Frau sah wirklich aus wie eine Krähe. In ihrem schwarzen Haar schimmerten schon einige graue Strähnen, die ihrem hageren Gesicht nicht gerade schmeichelten. Die lange und gebogenen Hakennase verstärkten nur noch das Bild. Hildas Blick sagte ihr deutlich, dass sie die Frau am liebsten aus dem Haus geworfen hätte. Cassandra stimmte ihr mit einem Nicken zu. Sie stützte demonstrativ die Hände auf die Hüfte.

"Was kann ich für Euch tun?"

"Ah, na endlich. Wie ich Hilda bereits erklärt habe, schmerzt mich der Rücken sehr. Ich erwarte eine angemessene Behandlung und zahle dementsprechend auch."

"Eine Behandlung meinerseits ist nicht notwendig."

"Haltet Ihr Euch etwa für zu gut oder zu besonders, um mich zu behandeln? Ich habe bereits gesagt, dass ich äußerst großzügig zahle, auch wenn Euer Verhalten es nicht gerade rechtfertigt!"

Ihr Stimme wurde nur noch schriller. Cassandra setzte eine ausdruckslose und gelangweilte Miene auf.

"Das Geld ist mir egal. Euer rechtes Bein ist zu kurz, das ist alles."

"Ihr nennt mich missgestaltet?!"

Herrgott, konnte die Frau nerven!

"Nein, ich sehe es an Eurer Haltung. Wahrscheinlich kommt es von einer Krankheit in der Kindheit, wodurch die Entwicklung und das Wachstum des Beins eingeschränkt ist. Geht zu einem Schuhmacher und bittet ihn, Euch eine Sohle mit der entsprechenden Dicke herzustellen. Dadurch werden die Größenunterschiede wieder ausgeglichen und Eure gesamte Statur wird wieder gerade. Die Schmerzen sollte dann verschwinden."

Northern LegendsWhere stories live. Discover now