𝕂𝕒𝕡𝕚𝕥𝕖𝕝 𝟜-𝕃𝕪𝕣𝕒

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Manchmal möchte man einfach abschalten. Abschalten, eine gewisse Zeit lang aus der Welt sein und später wieder aufwachen. Einfach ein paar Minuten oder Stunden des Lebens überspringen.

Ich wollte am liebsten die nächsten 50 Jahre überspringen.

Wie besessen starrte ich auf den Boden vor mir. Und wenn ich nur die nächsten 30 Jahre überspringen wollte?

Nichts passierte.
20?
Nichts.
9.
Stille.
»Wie deine Schwester heißt, Madge, wissen wir ja alle. Lyra Undersee, kommst du bitte auf die Bühne?« Meine Ohren dröhnten.
Verdammte Effie. Hätte sie nicht einen anderen Zettel ziehen können?Andererseits ... vielleicht wäre dann ein Kind aus dem Saum gezogen worden. Madge und ich - wir kamen doch aus der Bürgermeisterfamilie. Wir hatten Geld und Macht. Wir standen über allen anderen. Auch über den speziell für die Spiele ausgebildeten Karrieros, die uns die Zeit in der Arena zur Hölle machen würden.
Das glaubst du doch selbst nicht.
Da hatte die Stimme in meinem Kopf leider recht.

Langsam versuchte ich, einen Schritt nach vorn zu wagen. Ging nicht. Ging einfach nicht. Ich hatte Angst, dass meine Beine nachgeben würden, würde ich sie weiter strapazieren und dunkel erinnerte ich mich, dass ich wohl gerade in ganz Panem zu sehen war, da die Ernte gefilmt und auf alle Fernseher übertragen wurde.
»Wenn sie nicht kommen will, müssen wir sie holen.« Zwei Friedenswächter kamen auf mich zu, bereit, mich gewaltsam auf die Bühne zu zerren.

»Wartet!« Jasmin stand plötzlich außer Atem neben mir. »Ich helfe ihr.« Sie nahm mich an der Hand, als wäre ich ein kleines Kind, welches Schutz sucht und nicht allein zurechtkommen kann.

Wie wäre es mit 8,5 Jahren?
Bitte.
Wenn dort oben wirklich eine Gottheit säße, würde sie mir genau jetzt helfen.
Genau für solche Momente gingen wir immer in die Kirche.
Also alles Schwachsinn.
Götter existierten nicht.
Ich war der lebende Beweis dafür.

»Nicht weinen, Lyra. Bitte nicht weinen.« Jasmin selbst klang weinerlich. Sah ich denn so aus, als würde ich gleich in Tränen ausbrechen? Vermutlich. Aber ich hatte einen Ruf zu wahren. Auch wenn ich bis jetzt nicht viel gemacht hatte, um in Distrikt 12 bekannt zu sein, ich war die Tochter des Bürgermeisters. Und ich würde nicht wie ein kleines Mädchen vor allen zusammenbrechen. Ich nicht.

Langsam nahm ich den Blick vom Boden und reckte mein Kinn hoch. Ich sah über die Bühne, die mir mit jedem Schritt näher kam, hinweg, und starrte zu den dicht bewaldeten Bergen von Distrikt 12. Wie gern ich da jetzt wäre. Ich hatte noch nie diese Wälder besucht. Hinter ihnen gab es bestimmt Wege, die weit weg führten. Wie gern ich herausfinden würde, wohin sie verliefen. Wo ich hinkommen würde, würde ich ihnen folgen.

Jasmin und ich waren bei der Bühne angekommen. Langsam ließ ich ihre Hand los und stieg die wackelnden Treppen hoch. Besorgt sah Jasmin mir hinterher.

Wie wäre es mit 5 Jahren?
5 Jahre in die Zukunft, das dürfte doch möglich sein?

3?

2. Aber weniger nicht.

Nichts.
Natürlich.

Neben mir stand Madge, ihr ganzer Körper zitterte. Ich klammerte mich an ihre Hand. Alles kam mir so falsch, so unwirklich vor. Als wäre alles nur geträumt. Ha! Ich hatte die Lösung. Das war alles nur ein Traum. Aber was für ein realer Traum.
Madge musste so ähnlich denken, denn sie flüsterte mir zu :»Gleich ist es vorbei. Gleich. Alles ist in Ordnung. Alles. Ist. In. Ordnung.«

Ich glaubte ihr.
Ich wollte ihr glauben.
Und wie ich ihr glauben wollte.

»Na, das hat jetzt aber lange gedauert. Machen wir schnell weiter.«, sagte Effie, während sie zu der Glaskugel mit den männlichen Tributen ging.

Mir war alles egal.

Rasch schnappte sie ein Los , räusperte sich und las den Namen vor. »Rory Hawthorne.«

Alle blickten in Richtung eines geschockt dreinschauenden, dunkelhaarigen Jungen, der ungefähr so alt wie ich war. Er machte keinen besseren Eindruck als ich vorhin. Wenigstens etwas.

»Hast du Geschwister?«, fragte Effie ungeduldig. Rory blickte stur nach vorn. »Nein.«, antwortete er mit fester Stimme. Kollektives Aufatmen in der Menge.

Ich kannte die Hawthornes nicht gut, aber ich wusste, dass er zumindest einen größeren Bruder hatte. Fail oder so. Er hatte meinem Dad zusammen mit Katniss Everdeen früher immer Erdbeeren gebracht.Mein Dad liebte Erdbeeren. Aber seit Katniss die Spiele gewonnen hatte, bekam er keine Erdbeeren mehr zugeliefert. Ich sah mich kurz um und entdeckte Fail. Er grinste.

»Okay, dann nochmal.« Effie zog ein neues Los. »Man Fred.«, las sie vor . Alle Blicke wandten sich zu einem schmächtigen, etwa fünfzehnjährigen Jungen. Dieser wurde blass. »Er lügt!« Man starrte wütend in Rorys Richtung. »Ich weiß, dass er einen  Bruder namens Gale hat.« Soso, Gale und nicht Fail. Ups. Nun sahen alle Rory an. »Stimmt das?«, Effie durchbohrte Rory mit ihrem Blick. »Nein !« Rorys Stimme zitterte. Niemand würde ihm so noch abkaufen, dass er die Wahrheit sagte. Effie seufzte. »Gale Hawthorne, komm bitte auf die Bühne.«

Gale trat nach vorne, machte aber keine Anstalten, die Bühne zu betreten. » Ich bin seit zwei Wochen 18. Also nicht für die Spiele zugelassen. Tja, Pech. Suchen Sie sich eine andere Familie.« Er war Effie einen höhnischen Blick zu.

»Es tut mir leid, das sagen zu müssen , aber dieses Jahr sind bis zu 20 - Jährige zugelassen. Wusstet ihr das nicht?« Effie tat so, als würde es sie wundern, dass dieses Detail der diesjährigen Ernte nicht bis zu uns nach Distrikt 12 durchgedrungen war.

Das vorher noch so hämische Gesicht von Rorys Bruder wies nun eine Mischung zwischen einem geschockt und verzweifeltem Gesichtsausdruck auf.

»Und dies sind unsere zwei männlichen Tribute aus Distrikt 12 - Gale und Rory Hawthrone! Applaus!« Woher nahm Effie ihre ganze Energie? Meine Beine schmerzten allmählich vom langen Stehen. Mein Herz hatte aufgehört, wie verrückt zu schlagen und ich hatte meinen Atem wieder unter Kontrolle. Mir war nun alles egal.

Das waren sie also, die 75 . Hungerspiele. Meine letzten Spiele . Madges letzte Spiele.

Ein hässliches Gefühl machte sich in meiner Brust breit und meine Augen füllten sich mit Tränen. Das penetrante Dröhnen meiner Ohren, das gerade aufgehört hatte, setzte wieder voll ein. Alles war wie in Watte gepackt und ich spürte nur Madges verschwitzte Hand in meiner, als wir die Bühne verließen. Hören konnte ich nichts.

Auch nicht Effies begeistertes
»Fröhliche Hungerspiele. Und möge das Glück stets mit Euch sein!«

Die Tribute von Panem-Der Gesang der NachtigallWhere stories live. Discover now