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So langsam ging mir meine Kraft vollends aus. Ich schwitzte wie noch nie und mir tat alles weh. Meine Füße waren so wund, dass ich kaum noch auftreten konnte und mein rechtes Bein schmerzte so sehr, dass ich zeitweise nur auf meinem linken vorwärts hüpfte. Leider wurde dadurch jedoch meine linke Fußsohle noch mehr zerschnitten.

Ich war vollkommen außer Atem und um mich herum drehte sich alles. Außerdem konnte ich kaum mehr etwas erkennen, weil meine Umgebung verschwommen war, so wie es manchmal war, wenn Vater mich verprügelte.

Hinzu kam, dass meine Angst und Unsicherheit mit jeder Minute weiter wuchs. Hatte ich das Richtige getan? Ich war einfach weggelaufen, ohne wirklich darüber nachzudenken. Dabei war weglaufen verboten! Wenn Vater das erfuhr, würde er mich so hart bestrafen, dass ich mich vermutlich tagelang nicht mehr würde bewegen können.

Ich hätte nicht weglaufen dürfen. Nein, ich hätte bei dem Auto warten müssen! Vielleicht kam Vater und wollte mich zurückholen. Er wäre schrecklich wütend, wenn er mich nicht finden würde. Allerdings jagte mir das so große Angst ein, dass ich mich gar nicht traute, zu dem Auto zurückzugehen. Ich wollte nicht, dass er mich fand und mich bestrafte. Ich hatte das ja nicht einmal mit Absicht gemacht. Ich war verwirrt gewesen, hatte nicht verstanden, was passiert war. Und das Auto, dieses Monster, hatte mir Angst gemacht. Deshalb war ich weggerannt.

Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Ich war komplett überfordert und die Schmerzen machten es mir schwer, zu denken. Sehr schwer.

„Lilly, ich kann nicht mehr", wimmerte ich schließlich leise.

Langsam drehte sie sich zu mir um und sah mich besorgt an.

„Du musst! Hast du das Auto schon vergessen? Und den Mann? Du wolltest doch weg. Jetzt musst du es auch durchziehen. Du musst weiter. Komm, du schaffst das."

Sie kam ein paar Schritte auf mich zu.

„Komm schon. Du kannst jetzt nicht aufgeben."

„Es tut alles so weh, Lilly. So schrecklich weh. Ich kann keinen Schritt mehr gehen. Ich bin so müde und alles hier macht mir Angst."

Lilly seufzte und musterte mich von oben bis unten.

„Ich glaube dir ja. Ich weiß, dass du Schmerzen hast. Aber es war noch nie so wichtig wie jetzt, dass du weitermachst. Er ist ganz sicher schon hinter dir her. Komm schon, du schaffst das."

Ihre Worte ließen meine Brust noch enger werden. Ich wusste zwar nicht, was richtig war, aber ich wollte definitiv nicht bestraft werden. Das würde ich nicht ertragen. Also durfte ich nicht gefunden werden. Nicht jetzt. Nicht, solange es mir so schlecht ging.

Ich holte einmal tief Luft und sah Lilly mit schmerzverzerrtem Gesicht an. Ich wollte auf sie hören, wollte weitergehen. Also strengte ich mich an, so sehr ich konnte. Doch als ich den ersten Schritt ging, brach mein rechtes Bein unter meinem eigenen Gewicht zusammen und ich sackte mit einem Keuchen zu Boden. Tränen schimmerten in meinen Augen.

Ich war so erschöpft.

Lilly bückte sich zu mir nach unten. Sorge lag in ihrem Blick.

„Willst du wirklich aufgeben?", fragte sie und sah mich ernst an.

Die ersten Tränen liefen mir über die Wangen. Ich fühlte mich wie vor so vielen Jahren, als ich noch klein gewesen war und oft geweint hatte. Viel zu oft.

„Nein, ich will nicht aufgeben. Aber Lilly, ich... ich kann nicht mehr. Ich schaffe das nicht. Ich..."

Schockiert hielt ich inne. Ich hatte etwas gehört! Da war ein Geräusch gewesen. Aber nicht irgendein Geräusch. Es brachte mein Herz zum Stillstand. Das war eine Stimme! Die Stimme eines Mannes!

Mein Körper erstarrte und ich wandte meinen Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch erklungen war.

„Scheiße, da kommt jemand! Du musst dich verstecken! Schnell!"

Ich war absolut Lillys Meinung. Für einen Moment vergaß ich all meine Schmerzen. Etwas anderes übernahm meinen Körper und ich kroch hektisch auf etwas großes Graues zu, das auf dem Boden lag. Es hatte keine glatte Oberfläche wie die Wände meines Zimmers, sondern war seltsam verformt. Glücklicherweise fand ich eine Stelle, in die ich ein wenig hineinkriechen konnte und machte mich ganz klein.

Mit wild rasendem Herzen horchte ich auf die Geräusche, die immer lauter wurden. Sie riefen etwas und schienen näher zu kommen.

Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Ich hatte Panik. War es der Mann, der mich in dem Auto hierhergebracht hatte? Ich wusste es nicht und ich traute mich auch nicht, nach ihm zu sehen. Doch dann hörte ich plötzlich ein weiteres Geräusch. Es war auch eine Stimme, aber sie war viel heller als die des Mannes. Verwundert lauschte ich. Sie war ähnlich wie meine.

Mein Herz blieb wieder einen Moment stehen, ehe es im selben schnellen Tempo weiterschlug.

„Hallo, ist irgendjemand hier? Keine Angst, wir sind von der Polizei! Hallo!"

Sie suchten mich! Hitze schoss mir in die Wangen und ich gab mein Bestes, mich nicht zu regen, keinen Laut von mir zu geben. Mein schlimmster Albtraum wurde wahr: Das waren die Menschen, vor denen Vater mich gewarnt hatte. Die Menschen, die mir Böses wollten und noch viel schlimmer waren, als Vater es jemals gewesen war.

Und es war nicht nur einer. Es waren mehrere!

Panisch machte ich mich noch kleiner. Lilly war mal wieder verschwunden. So wie immer, wenn es gefährlich wurde. Jedes Mal versteckte sie sich, weshalb ihr noch nie etwas passiert war.

Mir wurde noch heißer, während ich konzentriert lauschte. Ich war wieder alleine und die Angst, jeden Moment entdeckt zu werden, regierte meinen Körper. Wieso war Lilly schon wieder verschwunden? Ich hätte sie gerade wirklich brauchen können. Scheiße, ich brauchte sie!

Mein Herz schlug viel zu schnell. Es schlug so laut in meinen Ohren, dass ich nicht einmal mehr verstand, was diese Menschen riefen.

Mir war schwindelig. Es fehlte nicht mehr viel und ich würde bewusstlos werden.

Bitte, bitte, geht wieder weg! Verschwindet von hier!

Ich saß da, meine Knie eng an mich gedrückt, meine Arme hinter mir schmerzhaft an die raue Wand gepresst und in der bangenden Erwartung, jeden Moment entdeckt zu werden. Die Geräusche hier waren so anders als in meinem Zimmer. Ich konnte überhaupt nicht sagen, wie weit die Stimmen entfernt waren. Ich hatte in dieser Welt keine Orientierung. Das verunsicherte mich und machte mir noch größere Angst. Ich wollte nicht entdeckt werden. Diese Menschen sollten verschwinden!

Während ich verzweifelt in meinem Versteck saß, verschwamm die Welt um mich herum immer mehr. Ich schaffte es nicht, mein Herz zu beruhigen und auch der Schwindel ließ nicht nach. Weiße Punkte tanzten vor meinen Augen und ich spürte, wie ich abdriftete.

Ich konnte einfach nicht mehr. Ich war zutiefst erschöpft und die Verletzungen, die das Auto mir zugefügt hatte, raubten mir all meine Kraft.

Langsam wurde mein Blickfeld kleiner. Schwarze Ränder tauchten auf und breiteten sich immer weiter aus. Ich atmete ein letztes Mal durch, doch es half nicht. Nur einen Augenblick später war alles um mich herum verschwunden.

Ich konnte nur hoffen, dass die Menschen mich nicht entdeckten. Denn nun konnte ich mich nicht mehr wehren. Falls sie mich fanden, war ich verloren.

Lost GirlWhere stories live. Discover now